Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Das kann man sich fragen, wenn man versucht, die Protestwelle zu analysieren, die in den letzten Wochen in Deutschland Millionen Menschen auf die Straße gebracht hat.
Im Positiven bleibt zuerst einmal festzuhalten: Die Demonstrationen als Reaktion auf die Correctiv-Berichte über das Berliner Geheimtreffen1 und die dort geschmiedeten Deportationspläne sind in der deutschen Nachwendegeschichte einzigartig - nicht nur wegen der rekordverdächtigen Teilnehmer*innenzahlen, die in Großstädten wie Hamburg oder Berlin in die Hunderttausende gingen, sondern nicht zuletzt auch in ihrer Breitenwirkung. Da fanden sich wie etwa in Koblenz autonome Antifas und katholische Bischöfe auf der gleichen Demo wieder, und, was noch bemerkenswerter ist, die Bewegung erreicht auch die Provinz.
Während man in Hamburg höchstens riskiert, sich im Gedränge auf die Füße zu latschen2, muss man in der sächsischen Kleinstadt, wo jede*r jede*n kennt, auf alles von Anfeindungen bis zu körperlichen Angriffen gefasst sein, wenn man sich öffentlich gegen die rechte Hegemonie stellt. Höchsten Respekt deshalb für alle, die sich auf die Marktplätze in den blau-braunen Hochburgen wagen - die es übrigens nicht nur im Osten gibt. Dies ist auch ausdrücklich als Aufforderung an Großstadtbewohner*innen zu verstehen, Aktionen im Umland zu unterstützen.
Mindestens ebenso bemerkenswert ist, wie plötzlich die Bewegung auf den Plan trat. Was die Correctiv-Recherchen zutage gefördert haben, ist zwar erschreckend, aber nicht überraschend, wenn man auch nur halbwegs politisch aufmerksam durch die Welt geht - und eigentlich muss man ihre Pläne auch nicht im Detail kennen, um zu wissen, dass Nazis an der Macht eine sehr, sehr ungute Sache sind.
Entweder also ist vielen Leuten tatsächlich erst jetzt urplötzlich klar geworden, was droht, wenn die AfD an Regierungsposten gelangt. Oder aber es hat sich unter der Oberfläche schon länger etwas aufgestaut, das nur noch einen letzten Anlass brauchte, um sich schlagartig Bahn zu brechen. Angesichts der äußerst unterschiedlichen Menschen, die da in den vergangenen Wochen zusammen kamen, dürfte von beidem etwas zutreffen; wichtiger für das gesellschaftliche Klima ist allerdings der zweite Punkt.
Denn anders als zur Zeit der Montagsdemos, die 1989 das Ende der DDR einläuteten, geht es heute nicht gegen ein ohnehin abbruchreifes System. Ganz im Gegenteil schienen die Verhältnisse noch Anfang dieses Jahres komplett festbetoniert: Andere Fragen als die, wie man Geflüchtete effektiver los wird, Erwerbslose noch besser schikaniert und welche sozialen Bereiche, Klimaschutzmaßnahmen und Projekte der politischen Bildung als Nächstes der Haushaltsaxt zum Opfer fallen, schien es nicht zu geben; im Windschatten des rassistischen und sozialdarwinistischen Diskurses feierte die AfD ein Umfragehoch nach dem nächsten. Dieses reaktionäre Dauerfeuer sorgte in den progressiveren Teilen der Gesellschaft für lähmende Ohnmachtsgefühle, die sich höchstens mal in den sozialen Medien Luft machten.
Die plötzlichen Massenproteste wirkten da, als hätte jemand in einem unerträglich stickigen Raum die Fenster aufgerissen. Das ist nicht nur das subjektive Empfinden der Autorin: »Demonstrierende beschreiben, wie sie dadurch aus ihrer Lethargie und passiv-resignativen Stimmung gerissen wurden, die sie angesichts der multiplen Krisen in den letzten Monaten verspürt haben«, erklärt etwa auch Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des Marktforschungsinstituts Rheingold, das Anfang des Jahres eine Studie zu den Motivationen der Demonstrierenden durchführte.
So betrachtet, ist das Glas halb voll3 - beziehungsweise ist es eine positive Überraschung, dass überhaupt etwas drin ist. Womit wir aber auch bei der Frage des Inhalts wären. Selbst die vielfach geäußerte Forderung nach einem AfD-Verbot ist keinesfalls Konsens, und die unterschiedliche Ausrichtung der Veranstaltungen lässt sich auch an den Schlagworten ablesen. »Gegen Rechts«, »Gegen Rechtsextremismus« oder schlicht »Für Demokratie« heißt es da etwa, und auch, wenn es nach Wortklauberei klingt, sind die Nuancen wichtig.
Ersteres schließt zumindest implizit den gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck mit ein, der auf den größeren, von Gruppen wie Fridays for Future organisierten Demos auch immer wieder von Redner*innen thematisiert wurde. Dass sich etwa »kaum jemand« auf den Demonstrationen beispielsweise an der schikanösen Bezahlkarte für Geflüchtete stören würde, die kürzlich ganz demokratisch beschlossen wurde, stimmt schlicht nicht - beziehungsweise war Pascal Beck, der dies in der »Jungle World« behauptet, offenbar auf gänzlich anders gearteten Demos als die Autorin dieses Artikels.
Zweitere Parole hingegen verengt nicht nur den Blick auf die AfD und andere vom Verfassungsschutz beobachtete rechte Organisationen, sondern ist mit dem politisch unbrauchbaren Extremismusbegriff auch eine Steilvorlage für alle, die zwar gegen Faschismus demonstrieren wollen, aber doch bitte nicht mit angeblich genauso schlimmen linksextremistischen Antifaschist*innen.
»Demokratie« wiederum klingt zwar schön und ist natürlich allem vorzuziehen, was Nazis so wollen, ist als Slogan aber inhaltlich so hohl wie die Sonntagsreden von Politiker*innen, die am nächsten Tag wieder »Rückführungsverbesserungsgesetze« und diskriminierende Maßnahmen wie die erwähnte Bezahlkarte für Asylsuchende beschließen - und dann noch die Dreistigkeit besitzen, die Demonstrationen von einer Handlungsaufforderung an zu einer Bestätigung für die Regierungsparteien umzuinterpretieren.
Natürlich braucht es alle demokratischen Kräfte, um die AfD aufzuhalten, und Massenveranstaltungen sind ohnehin nicht der richtige Ort für Abgrenzungsrituale. (Nicht nur) wer mit linksradikalem Politisierungshintergrund auf die Demonstrationen geht, sollte neben Transparenten und Proviant auch ein ordentliches Maß an Ambiguitätstoleranz mitbringen - auch das macht übrigens Demokratie aus. (Tatsächlich ist es auch durchaus erfrischend, mal andere Redebeiträge als die seit Jahren bekannten Satzbausteine aus dem eigenen Szenesumpf zu hören.)
Andererseits ist stets Skepsis angebracht, wo immer das ganz große »Wir« beschworen wird, und die Parole »Deutschland steht auf«, die auch immer mal wieder zu lesen ist, hat einen äußerst unangenehmen Beigeschmack. Vergleiche mit dem »Lichterkettenantifaschismus« der 1990er-Jahre liegen nahe: Damals brachte das Entsetzen über die Welle rechter Gewalt, insbesondere die Mordanschläge von Mölln und Solingen, tausende brave Bürger*innen allerorten auf die Straße; so brav, dass teilweise sogar Sprechchöre unerwünscht waren.
Gerne wurde auch das Mantra beschworen, Gewalt sei keine Lösung4 - während die einzigen, die den Nazischlägern konkret etwas entgegensetzten, Antifas mit einer weniger pazifistischen Einstellung waren. Zur gleichen Zeit beschloss eine ganz große Koalition aus regierender CDU und FDP zusammen mit SPD-Abgeordneten die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der auf einer Großkundgebung unter dem - vor diesem Hintergrund reichlich zynischen - Motto »Die Würde des Menschen ist unantastbar« sprach, kassierte deshalb Eierwürfe von Autonomen, und zwar völlig zu Recht.
Seinerzeit gab es aber immerhin noch eine nennenswerte radikale Linke. Deren heutige Restbestände schwanken zwischen Erleichterung, dass sich überhaupt etwas regt im Land, und Ratlosigkeit, wie man mit dem bürgerlichen Charakter der Proteste und den Tendenzen zur Entpolitisierung und Affirmation der sogenannten Mitte umgehen soll.
Eine Antwort wäre: Mit mehr Selbstbewusstsein. Gerade öffnet sich (vielleicht) ein Diskursspielraum, der nicht nur Platz für die Kritik am ganz demokratischen Rechtsruck bietet, sondern unbedingt genutzt werden sollte, um auch dessen tieferliegende Ursachen zu benennen - allen voran die neoliberale Sparpolitik und wachsende soziale Ungleichheit. Wer Angst hat, mit solch linksextremistischen Positionen die braven Bürger*innen zu verschrecken, und sich um des großen Miteinanders willen Kritik nach innen verkneift, hat schon verloren. Nicht vergessen: Das Glas wird voller, wenn man etwas Wasser in den Wein gießt.