Die Unsichtbaren

Ein Überblick zum gegenwärtigen Israelhass. Von Salya Föhr.

Das, was man vermeintlich in Büchern und Filmen eingesperrt wusste, war dann doch nicht so leicht zu verschließen. Unerträglich ist die Simultanität von Ereignissen: Gleichzeitig zum ständigen, verzweifelten Überprüfen der Nachrichten wird der Roman »Bronsteins Kinder« von Jurek Becker und »weiter leben« von Ruth Klüger gelesen. Beide Werke behandeln den Nationalsozialismus, die Shoah und ihr Fortleben bis in die Gegenwart. Allein, erst in der Konkurrenz zu den aktuellen desaströsen Entwicklungen wird man gewahr, wie sehr dieser mahnende Satz vom Fortwirken des Nationalsozialismus auch bei einem selbst zu einer steifen Floskel verkommen ist. Eben jene Sätze und Weisheiten scheinen erst jetzt ihre wirkliche Wucht zu entfalten. Jetzt, fast ein halbes Jahr nach dem seit der Shoah grausamsten und größten Massaker an über Tausend Jüdinnen und Juden in Israel. Im Bewusstsein der Überlebenden und Angehörigen der Opfer ist es nicht mal Sekunden her, dass die Terrorgruppe Hamas sowie der Islamische Djihad hunderte Israelis entführte, in ihren Betten und Wohnungen abschlachtete, lebendig verbrannte, Neugeborene tötete und ganze Ortschaften abbrannte. Wenige Monate ist das erst her – und noch immer befinden sich über 100 Geiseln in den Händen der Hamas, im Gazastreifen. Wenige Monate ist diese Zäsur erst alt – und dennoch sind wir Zeuge eines seltsamen Phänomens:

Die Mehrheit der Solidaritätsbekundungen hat all die toten Juden, hat das Massaker, mit dem alles seinen Anfang nahm und der Krieg gegen Israel begann, bereits vergessen. Bei so vielen sich als emanzipatorisch, feministisch und links bezeichnenden Gruppierungen kommen die Juden nicht vor und wenn, dann nur in einem Nebensatz, als kleines unangenehmes Zugeständnis bei ihren tatsächlichen Bekundungen von Mitgefühl, die sich an die Palästinenser richten. In London ist die Zahl der antisemitischen Übergriffe seit dem Terrorangriff auf Israel um über 1000 Prozent gestiegen. Man solle doch das Leid auf beiden Seiten beachten, krakeelt es unerträglich beinahe unisono aus allen Ecken. Israel solle doch verhältnismäßig reagieren, wurde es wenige Tage nach dem Massaker zurechtgewiesen. Die Universität Harvard empfahl sogar, man solle doch bitte den Kontext der Ereignisse betrachten. Natürlich, das Köpfen von Babys geschieht selbstverständlich nicht im luftleeren Raum. Diese Formulierung würde auch dem Generalsekretär der UN António Guterres ziemlich gut gefallen. Was ist denn verhältnismäßig, fragt man sich, an einem Massaker an hunderten von Menschen auf einem Musikfestival? Was ist denn verhältnismäßig, fragt man sich, beim Auslöschen ganzer Ortschaften im Süden Israels? 

Nicht verhältnismäßig ist die Schweigeminute für Gaza, die bei den Vereinten Nationen im Oktober abgehalten wurde. Oder das Verständnis António Guterres für die Taten der Hamas und sein Gerede von der »erdrückenden Besatzung« Palästinas durch Israel. Natürlich ist es wieder der jüdische Staat selbst, der für sich sprechen muss, ist es der UN-Botschafter Israels, der einen Rücktritt Guterres verlangt. Die Delegation aus Israel sah sich sogar genötigt, Judensterne mit den Worten »Nie wieder« während einer Sitzung der UN an ihr Revers zu heften, weil ihr in ihrer Ohnmacht keine andere Maßnahme mehr einfällt, angesichts der vielfältigen Verharmlosungen des Antizionismus und Antisemitismus seitens der Vereinten Nationen. Die israelische UN-Delegation erklärte in ihrer Rede dazu, sie würde die Sterne so lange tragen, bis die UN endlich ihrer Arbeit nachgeht und nach Wochen des Schweigens und Relativierens mindestens den terroristischen Angriff auf ihr Land benennt sowie die Rückführung der Geiseln verlangt. Selbst mehrere Monate nach dem Massaker und der systematischen Massenverge-waltigung von Jüdinnen im Süden Israels durch die Hamas schafft es UN-Women noch immer nicht, diese Verbrechen zu benennen. Eine Meldung bei Instagram, die nach schrecklichen sieben Wochen endlich den Terrorangriff der Hamas auf Israelis verurteilt, wird kurz darauf wieder gelöscht und in einer entschärften Variante gepostet. Man kann sich trotz des größten Massakers an Jüdinnen und Juden seit der Shoah und steigendem Antizionismus und Antisemitismus weltweit einfach nicht vom eigenen Hass auf den Staat Israel lösen, er sitzt zu tief, ist zu vertraut und hat eine zu lange Historie. Die Vereinten Nationen stehen dabei selbstredend nicht alleine, sondern in einer Reihe mit einer Vielzahl anderer Organisationen und NGOs, die ihren Antizionismus seit dem Angriff auf Israel noch mehr kultivieren als bereits in vergangenen Jahrzehnten. Richtig bizarr wird es, wenn jetzt schlussendlich von der Kulturbranche weltweit zu einem Boykott Deutschlands und deutscher Kultureinrichtungen aufgerufen wird, da sie sich zu einseitig und deutlich mit Israel solidarisieren und an der Seite des jüdischen Staates stehen. Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, bereits früher schon mit ihren positiven Aussagen zu BDS aufgefallen, ist leider ein berühmter Teil dieser Kampagne. 

Nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 bekundeten eine Reihe von israelischen Schriftstellern ihre Solidarität mit ihrem Heimatland und beschrieben Gefühle von Angst, Ohnmacht und Verzweiflung angesichts der flächendeckenden Relativierungen aus der Literatur- und Kulturszene. Selbst der als sehr linker Zionist bekannte Schriftsteller David Grossman, dessen Roman »Eine Frau flieht vor einer Nachricht« ein ambivalentes Bild Israels aufzeigt und sich auch nicht scheut, das Militär und die Regierung Israels kritisch zu beschreiben, findet deutliche Worte bezüglich der großen Welle des Hasses auf Israel. Keine Politik der Regierung Netanyahu könne rechtfertigen, was am 7. Oktober geschehen sei, so Grossman: »das Ausmaß des Hasses gegenüber Israel, die schmerzvolle Einsicht, dass wir Israeli immer in erhöhter Alarmbereitschaft werden leben müssen und in konstanter Kriegsbereitschaft«. Grossman wendet sich in einem Artikel der Financial Times auch gegen die grassierende Täter-Opfer-Umkehr und dem Vorwurf, dass Israel letztendlich schuld am Massaker der Hamas sei: »Bei aller Wut auf Netanyahu, seine Leute und seine Politik: Das Grauen der letzten Tage wurde nicht von Israel verursacht. Es wurde von der Hamas verübt.«

Den Antisemiten ist es jedoch gleich, ob es sich bei den Israelis, die sie niederbrüllen, um linke Zionisten handelt, die die israelische Regierung kritisieren, oder nicht. Am 9. Februar 2024 war die Richterin des Obersten Gerichts des Staates Israels zu einer Diskussion an der Humboldt Universität in Berlin geladen. Selbsternannte propalästinensische Aktivisten brüllten die Podiumsdiskussion zum Thema »Constitutional Challenges – Judging in a Constitutional Democracy« mit der Richterin Barak Erez so vehement nieder, dass diese abgebrochen und Barak Erez unter Polizeischutz den Raum verlassen musste. 

Der bekannte israelische Autor Etgar Keret versucht seit dem Ausbruch des Krieges zusammen mit seiner Frau dort zu helfen, wo es möglich ist. Keret hat sich in seinem Werk und seinen Äußerungen immer auch für einen Frieden mit den Palästinensern ausgesprochen und organisiert nach dem Terrorangriff der Hamas kleine Lesungen für Kinder, die die Massaker in den Kibbuzim überlebt haben. Sie treffen sich außerdem mit älteren Menschen und Soldaten und veranstalten Online-Lesungen für Kinder, die Angst vor den konstanten Raketenangriffen der Hamas haben, die mittlerweile auch das Kernland und die Metropole Tel Aviv erreichen. Keret betont in einem Interview, dass es der Hamas nicht um Territoriengewinnung gehe, sondern um einen systematischen Völkermord an Israelis und Juden weltweit. Etgar Keret ist fassungslos angesichts der Relativierungen seitens der Universitäten in den USA, die behaupteten, das Massaker würde in Israels Verantwortung liegen. Im Zuge dessen kritisiert Keret zu Recht den Wunsch der Welt nach einem baldigen Frieden in der Region. Es hat schon etwas Bigottes, sich fast manisch eine baldige Lösung des sogenannten »Nahostkonfliktes« herbeizusehnen, kurz nachdem Tausende Menschen verbrannt, vergewaltigt und massakriert worden sind. 

Immer schon müssen Juden, müssen Israelis meist für sich selbst einstehen, weil sie von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft keine wirkliche Unterstützung zu erwarten haben. Engagiert man sich politisch und gesellschaftlich für Israel und macht auf aktuelle Gefahren des Antisemitismus aufmerksam, wird man nicht selten gefragt, ob man »jüdisch sei« oder »jüdische Wurzeln habe«. Für nicht-jüdische Deutsche ist es scheinbar unmöglich, sich vorzustellen, was einen jenseits einer jüdischen Identität dazu motivieren könnte, sich für Israel und gegen Judenhass einzusetzen.

Jahrhunderte des tradierten wie offenen Antisemitismus sind offenkundig nicht so leicht auszumerzen, die Welt ist durchdrungen von jenen unerträglichen Kontinuitäten, die so tief liegen, dass die meisten ihren Antisemitismus in ihrem Wahn nicht einmal selbst merken, all die Menschenrechtsaktivisten und Kulturmoralisten, die sich sonst nicht zu schade sind, gegen Unrecht aufzustehen, gegen den Klimawandel und für Black Lives Matter. Man stelle sich nur einmal vor, bei den Anschlägen auf das World Trade Center oder bei der Ermordung George Floyds würde es in der Medienlandschaft raunen, man müsse nun »verhältnismäßig« handeln und auch die andere Seite im Blick behalten? »All lives matter« wurde damals als Auslassung zurecht verunglimpft. Aber geht es um Juden und den Jüdischen Staat, sieht die Sache anders aus. Da kann selbst das größte Massaker an Juden seit der Shoah kein Umdenken bewirken.

Um dem Vergessen und falscher Berichterstattung vorzubeugen, beraumte Israel für internationale Journalisten ein öffentliches Screening ein, bei dem die grausamen Aufnahmen der Hamasterroristen, das Morden, Vergewaltigen und Abschlachten, gezeigt wurden. Allein dass sich Israel genötigt sieht, solch eine Beweisführung zu organisieren und vorzubereiten, während der Krieg gegen Israel andauert und das ganze Land zutiefst traumatisiert, ist ungeheuerlich. Israel selbst wird immer wieder dazu genötigt, sich in seiner Existenz und in seinem Handeln legitimieren zu müssen, koste es, was es wolle. Selbst nach der mehrfachen Berichterstattung über die Massaker gibt es immer noch viele, die es nicht glauben, darüber systematisch schweigen und zwar die israelischen Luftangriffe auf Gaza skandalisieren, aber mit keinem Wort die Geiseln oder die vielen Waffenarsenale erwähnen, die die Hamas unter Krankenhäusern, unter Universitäten und in ihrem weit verzweigten Tunnelsystem versteckt hält. Jüdinnen und Juden weltweit berichten einheitlich von einem Gefühl der Ohnmacht, Isolation und Retraumatisierung angesichts der Flut an antisemitischen und antizionistischen Nachrichten und heuchlerischen Beileidsbekundungen. Heißt es nun bei den Demonstrationen gegen die Alternative für Deutschland auf deutschen Straßen plötzlich wieder »Wir sind alle Antifaschisten« und »Nie wieder ist jetzt!«, dann ist der 7. Oktober längst schon vergessen, längst schon wieder unsichtbar. 

Die letzten Seiten des autobiographischen Romans »weiter leben« von Ruth Klüger beschreiben ihr Entkommen als kleines Mädchen aus mehreren Konzentrationslagern und wie sie sich im Verlauf ihrer Flucht in einer kleinen Stadt verstecken kann. An einem Tag sieht sie einen weiteren Todesmarsch mitten durch die Stadt laufen, eben einen jener Märsche, dem sie entkam. Ruth Klüger sieht die halb toten und verhungerten Menschen direkt vor sich und doch kann sie sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Einwohner der Stadt durch diesen Zug an Menschen hindurchsehen, gerade so, als wäre er gar nicht existent. Die Einwohner blenden die Juden einfach aus. Sie gehören schon lange nicht mehr zu ihrer Lebensrealität, nicht zu ihrem Alltag.

»Nie wieder ist jetzt«, riefen die Juden in Deutschland verzweifelt in den Tagen und Wochen nach dem 7. Oktober 2023 und doch waren alle so zögerlich, als es um das Hissen der israelischen Fahne ging. »Nie wieder ist jetzt« ist erst wieder eine Massenbewegung, seitdem sich die Mehrheitsgesellschaft bedroht sieht und es um mehr geht als nur um Juden und Israel.

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