Multidirektionale Respektlosigkeit

Der abschließende vierte Teil von Richard Schuberths Serie »Byron auf dem Diwan, Postkolonialismus auf der Couch«.

Dimitrie Cantemir (1673–1723) würde es postkolonialer Farbenlehre nicht leicht machen, ihn auf der Skala des diskursiven Opfertums einzusortieren. Aber das nimmt nicht wunder, war der als Fürstengeisel am Sultanshof in Istanbul aufgewachsene Hospodar Moldawiens und spätere Gefolgsmann Zar Peter des Großen eine schwer fassbare Person: Historiker, Geograph, Komponist, Sprachwissenschaftler, Musiktheoretiker, Lautenvirtuose, Dichter, Satiriker, Rebell. War er nun Balkanier, Orientale oder Europäer? Politisch ein Gegner des Osmanischen Reichs (nach missglücktem Aufstand lief er zu den Russen über), ein an der westlichen Frühaufklärung orientierter Universalgelehrter (die Brandenburgische Societät der Wissenschaften ernannte ihn zum Ehrenmitglied) und privat ein leidenschaftlicher Liebhaber osmanischer Kultur: Als junger Mann galt er als einer der besten Oudspieler Istanbuls und mit seinem Kitâbu 'Ilmi'l-Mûsikí alâ Vechi'l-Hurûfât (Das Buch der schriftlichen Musikwissenschaft) schuf er eines der ersten Standardwerke zu osmanischer Musik. Auch seine von Lord Byron mit großem Interesse gelesene Geschichte der Entstehung und des Verfalls des Osmanischen Reichs galt lange als Standardwerk. In einer Passage, die Byron zweifellos für sein Versepos Don Juan zu Rate gezogen hat, gibt Cantemir ein aufschlussreiches Beispiel des Werts der Menschen aus osmanischer Perspektive, nämlich anhand ihres Kaufpreises auf dem Sklavenmarkt. Am höchsten rangieren dort die Tscherkessen. Die Schönheit tscherkessischer Frauen sei unübertroffen und die jungen Männer werden für ihren scharfen und schnellen Verstand gelobt. Für Tscherkessen beider Geschlechter wird ein Kaufpreis von 1000 imperialen Kronen1 veranschlagt, nicht unbedingt dicht gefolgt von Polen (600 Kronen), Abasinen2 (500), Russen und Kosaken (400), Georgiern (300) und Megreliern3 (250). Am wenigsten wert seien die Franken (Ifrenk). Darunter verstand man im Orient alle West- und Mitteleuropäer. Cantemir meint hier aber konkret Deutsche, Ungarn und Venezianer. Auch den Grund für deren minderen Wert weiß er zu nennen: Fränkische Männer „werden von ihnen [den Türken, R. S.] aufgrund der Weichheit ihres Körpers für unfähig zu jeder Art von Arbeit gehalten, und die Frauen aufgrund der Grobschlächtigkeit des ihren für die Bereitstellung der Vergnügen, die ihr Geschlecht zu bieten hat.“

Einer von unzähligen historischen Hinweisen darauf, dass Kolonialismus, Sklavenwirtschaft und Chauvinismus keine europäischen Privilegien waren und es von erlesenem paternalistischem Rassismus zeugt, dem außereuropäischen Menschen jegliche Agency zur Bestialität abzusprechen sowie dessen Primäridentität auf kolonialem Opferstatus festzuzurren.

In Edward Saids Buch Orientalismus findet Lord Byron nur kursorische Erwähnung, aufgefädelt wird sein Name an Bettelarmbändern voll anderer notorischer Dichter und Denker, die den Orient konstruiert, missverstanden oder exotisiert hätten. Was Said freilich nicht wusste: Nicht er hatte den Begriff geprägt, sondern Lord Byron selbst, und zwar nicht als Affirmation, sondern Kritik. Anders als im Sinne Saids freilich. Dass der Orient der romantischen Dichtung nichts mit dem echten Orient zu tun hatte, wusste Byron selber. Er ging einen Schritt weiter, und verspottete dieses Genre, das er mitgeschaffen hatte, als seichte Marketingstrategie. Wie in seiner komischen Verserzählung Beppo, der großen Zäsur seines Schaffens, mit der er sich vom dunklen Pathos seiner orientalistischen Bestseller befreite und worin er verrät, womit man die Zustimmung des Publikums erschleicht:

How quickly would I print (the world delighting)
A Grecian, Syrian, or Assyrian tale,
And sell you, mixed with Western Sentimentalism,
Some samples of the finest Orientalism.

Damit nicht genug, klärt Byron die Leser in einer Fußnote über die Bedeutung seines Neologismus auf:

„The ,finest Orientalism’: eine neue Phrase für eine weit verbreitete Art von Poesie.

Für ihre Bedeutung konsultieren Sie Mercutio, Romeo und Julia, Akt 2, Szene 4:

,Der … was?’

Mercutio: ,Zum Teufel mit solch weltfremden, lispelnden, gezierten Spinnern – diesen neuen Phrasendreschern – ,Bei Jesu, was für schneidiger Draufgänger – was für gutgewachsener Junge – was für erlesene Hure.‘“4

Die Kritik des Orientalismus als prätentiöser Künstlichkeit datiert also bereits auf 1817 und ist launiger Ausdruck einer aufrichtigen Selbstanzeige. Bereits am Anfang seiner Karriere war sich Byron der Instrumentalität der orientalischen Sujets bewusst. Es war die Zeit, als er, überrascht vom Erfolg seines Childe Harold (dessen romantische Tendenz ihm nie behagte), das Dichten noch als unseriösen Zeitvertreib erachtete, welches einer Laufbahn als Politiker, Revolutionär oder Abenteurer weichen würde. Im Juli 1813 hatte er als Testballon für seine Turkish Tales die Verserzählung The Giaour steigen lassen. Etwas unsicher über diesen Alleingang versuchte er einen Monat später auch seinen Freund Thomas Moore auf poetische Linie zu bringen, und zwar im kumpelhaften Ton hinterfotziger Berechnung:

Halte dich an den Osten; unser Orakel, [Madame de] Staël, kündete mir, dass das heutzutage die einzige poetische Strategie sei. Der Norden, der Süden und der Westen sind alle schon ausgeschöpft; aber aus dem Osten haben wir nichts als Southeys Ladenhüter ... Das wenige, was ich dazu beigetragen habe, diene dir lediglich als ,Ruf aus der Wüste‘; und sollte der mit Erfolg gesegnet sein, beweist es, dass auch das Publikum orientalisiert, und sie auch dir den Weg ebnen wird.“

Und so machte sich Moore an sein orientalisches Versepos Lalla Rookh, mit dem er sich drei Jahre plagen würde, während Byron in derselben Zeit sechs weitere als Turkish Tales titulierte Verserzählungen raushauen würde, an denen er, wie er prahlte, nie länger als zehn Tage geschrieben habe, während er in London nebenher sich die Zeit vertrieb mit Affären, Drogen, einer Theaterintendanz, einer katastrophale Ehe, Partys und Depressionen. Im Vorwort zum erfolgreichsten wie schlechtesten Werk dieses Zyklus, The Corsair, widmete er dieses Moore, und gab ihm darin coram publico den Tipp, er brauche bei dessen eigener „Oriental Tale“ gar nicht in die Ferne schweifen, sondern solle seine irische Heimat bloß orientalisch anmalen:

Ich habe volles Vertrauen darin, dass Sie an einem Gedicht arbeiten, dessen Schauplatz im Osten liegt; niemand kann diesen Orten so gerecht werden wie Sie. Die Fehler Ihres eigenen Landes, aber auch der prächtige und feurige Geist seiner Söhne, die Schönheit und Gefühlstiefe seiner Töchter mögen dort zu finden sein: ... Ihre Fantasie wird wohl eine wärmere Sonne und einen weniger bewölkten Himmel erschaffen; aber Wildheit, Zärtlichkeit und Originalität sind Teil Ihres nationalen Anspruchs auf orientalische Abstammung, auf die Sie schon bisher Ihren Anspruch deutlicher bewiesen haben als die eifrigsten Antiquare Ihres Landes ...“

Aus verschiedenen Gründen kann man sich über diese Passage empören, aber unabhängig von Byrons mehr neidischem als romantisierendem Faible für Irishness lässt sie sich durchaus als die Einsicht in die Universalität kultureller Muster und Mentalitäten lesen – dass die Gegensätze von modern und vormodern, urban und rural, restriktiv und permissiv, reserviert und expressiv, rational und emotional – gleich ob eingebildet oder real, gleich ob auf- oder abgewertet, quer zu den großen Kulturgrenzen durch die je eigenen Gesellschaften verlaufen.

Southeys Ladenhüter“, von denen Byron in seinem Brief schrieb, waren die Versepen Thalaba the Destroyer und The Curse of Kehama. Robert Southey, der mit Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth das Triumvirat der englischen Romantik bildete, mauserte sich zu Byrons Erzfeind und Reibebaum (dieser sollte Byron, Shelley und Keats seinerseits einer Satanischen Schule zuordnen). Southey, Ex-Jakobiner, Naturmystiker, Tory, Pöbelverächter und beamteter Staatspoet erfüllte in der Tat alle Sündenregister des Said’schen Orientalismus: Er war nie weiter als bis Portugal gereist, nannte Sanskrit eine „Paviansprache“, verteidigte Imperialismus und protestantische Missionen in Indien und kaschierte seinen Suprematismus mit Buchwissen über hinduistische Mythologie. Coleridge, der mit Kubla Khan auch seinen Beitrag zur orientalistischen Mode leistete, war immerhin bis Malta gekommen. Lord Byron hatte als erfahrener Levantereisender somit leichtes Spiel, seine Konkurrenten mit echter und konstruierter Authentizität an die Wand zu spielen.

Anglisten aus vorwiegend muslimischen Ländern nützten in den 1990er-Jahren Byron in ihrer Opposition zu Edwards Saids Thesen gerne als Zeugen der Anklage. Zu Unrecht, wie ich meine – und wie Byron selbst meinen würde.

Schützenhilfe aus dem Morgenland

Mohammed Sharafuddin5 aus dem Jemen, der Inder Abdur Raheem Kidwai6 und der Libanese Naji B. Oueijan7 kommen in ihren Analysen des Orientalismus der britischen Romantik zu unterschiedlichen Einschätzungen. Lediglich in ihrer Verteidigung Lord Byrons als Sonderfall sind sie sich einig. Allesamt loben sie in ihren jeweiligen Publikationen Byrons kulturelle Akkuratesse sowie die Abwesenheit eurozentrischer Wertungen. Sharafuddin prägte für Byron sogar die Sonderkategorie „realistischer Orientalismus“.

Mit polemischer Zuspitzung ließe sich einwenden, dass Lord Byron bei allem, was wir über seine eigene Einschätzung der Turkish Tales wissen, seinen Verteidigern in den Rücken fallen und ausgerechnet Edward Said, der Byrons Werk kaum zu kennen schien, recht geben würde. So viel dazu sei nur gesagt, dass The Siege of Corinth von allen Turkish Tales das interessanteste, The Corsair, sein erfolgreichstes, aber schwächstes Stück ist. Neben handwerklich brillanten Versen (die sich mit leichtfertig schlampigen abwechseln), klugen Einsichten, der moralischen Uneindeutigkeit seiner Figuren und einer kulturellen Beiläufigkeit, die das exotische Setting weder idealisiert noch dämonisiert, sind die Erzählungen schwach komponiert und vorrangig Vehikel für Byrons Selbststilisierungen tragisch schuldbewährter Helden auf ihrem Weg ins Verderben, sowie seine lyrische Intensität und die Ausstellung exotischer Bildungsnippes. Damit fütterte er drei Jahre die Byromania, und dass manche Rezensenten diese Stücke als reißerisch und trivial abtaten, lässt sich nicht nur als Rationalisierung von moralischem Unbehagen mit Byrons gefallenen Engeln erklären. Wenn oben genannte arabische und indische Anglisten Byrons Detailtreue und kulturelle Empathie loben, heißt das nicht, dass seine etwas authentischer eingerichteten Diwane nur irgendetwas zum besseren Verständnis dieser Gesellschaften geschweige denn ihrer aktuellen Situationen beitrugen. Auch Byron bestätigt Saids Kritik der Konstruktion eines zeitlosen, undynamischen Orients. Und zu Recht stießen sich einige Rezensenten an der Überfülle an arabotürkischpersischen Fachtermini, mit denen er seine Miniepen spickte und Insiderwissen markierte. Dieses hatte er zum Teil, wie Byronforscher exakt nachweisen konnten, aus Reisebüchern übernommen. Immerhin zeigte er eine löbliche, für männliche Autoren unübliche Expertise bei Kleidung, Schmuck und Interieurs, was daran lag, dass seine levantinischen Szenarien großteils mit nordafrikanischen Accessoires ausstaffiert sind. Er hatte sie nämlich dem Narrative of a ten years' residence at Tripoli in Africa der Mrs Tully entnommen, die als Schwägerin des britischen Konsuls von 1783 bis 1793 in Libyen zugebracht hatte. Ihr unbedingt wiederzuentdeckender Bericht zählt im Übrigen zu den klügsten, unsentimentalsten und realistischsten westlichen Dokumenten über den Orient, wie kein anderes geeignet, Saids Thesenstränge reißen zu lassen wie die Saiten einer zu fest bespannten Oud. Was sich von Byron nicht behaupten lässt.

Wie verführt man aber als „Westler“ ist, Wissenschaftlern mit orientalischen Namen eine besondere Autorität in der Kritik von Said zuzugestehen, bekundet die Verfangenheit im kulturellen Essenzialismus, und zwar zu beiden Seiten der Orientalismus-Front. Wenn Araber Byron gegen einen anderen Araber verteidigen, dann entkommen auch sie nicht ihrer Verdinglichung, im Westen als authentische Stimmen ihrer Herkunftskulturen rezipiert zu werden. Wenn ein steirischer Essayist mit iranischem Baha’i-Hintergrund wie Sama Maani etwa von der antideutschen Szene hofiert wird, dann nicht allein, weil er kluge Texte gegen Kulturalismus und das Konzept des antimuslimischen Rassismus geschrieben hat, sondern wohl auch, weil er bei deutschen Islamkritikern als zur Aufklärung konvertierter Morgenländer figuriert, als besonders wertvolle Kolonialbeute, als von Allah abgefallener „Mohr der Kritischen Theorie“, dessen Kritik sofort an Kredit verlöre, wenn sich herausstellte, dass er eigentlich Ferry Hödlmoser hieße.

Die drei anglistischen Weisen aus dem Morgenland sind schlichtweg westlich sozialisierte Byronfans. Ebenso wie Edward Said kennen sie sich in westlicher Geistesgeschichte vermutlich besser aus als im Koran oder den Volkskulturen ihrer Herkunftsländer. Und sie sind Individuen und keine Anwälte oder Propheten kollektiver gekränkter Brownness.

Vielleicht sind Byrons frühe epische Lyrik und mit ihr die Figur des Byron’schen Helden wirklich besser ins Bewusstsein nichtwestlicher Rezipienten übersetzbar als die Werke anderer westlicher Dichter. Und vielleicht spricht diese Transkulturalität nicht unbedingt für Byron. Die Turkish Tales entbehren einer der besten Qualitäten ihres Autors: des Witzes, eines Witzes, von dem Byrons Spätwerk Don Juan geradezu überquillt. Der Byronspezialist Peter Cochran erkannte etwas, das sowohl für Byron als den Diskurs über ihn gilt: „Nur wenige, die über die Turkish Tales schreiben, schwärmen gleichermaßen von Don Juan und Beppo: […] Denn der Orientalismus muss ernst genommen werden: Akademische Karrieren beruhen auf seiner seriösen Analyse, und ein Autor, der darüber scherzt, verunsichert uns, egal wie groß sein Fachwissen auch sein mag.“

Ob das Faible von Byrons Verteidigern für dessen orientalistische Phase von einer besonders morgenländischen Affinität für lyrischen Kitsch herrührt, oder von ihrer Assimilation an abendländischen – oder einer hoffnungsvollen Synthese aus beidem, bleibt letztlich einerlei: Denn vielleicht gibt es einen Universalismus der Witzlosigkeit und Prätention. Und vielleicht sind Sharafuddin, Said, Kidwai und Oueijan wirklich „westlicher“ als der Ire Thomas Moore, und vielleicht würde dessen Poesie in – welchem Osten auch immer – besser verstanden werden als ihre – durchaus hochinteressanten – Fachtraktate.

Die Abrechnung

Wie aber ging es weiter mit Thomas Moores Epos Lallah Rookh, zu dem Byron ihn angestachelt hatte? Nach drei Jahren mühseliger Arbeit war es fertig, und in der Tat war die darin behandelte Revolte autochthoner iranischer Zoroastrier gegen den islamischen Kolonialismus unschwer als Paraphrase auf den irischen Widerstand gegen England zu verstehen. Nach Erscheinen des Buchs brach der Briefkontakt zwischen Byron und Moore für eine Weile ab. Der Grund war klar: Byron konnte Moore das Lob nicht spenden, das dieser von ihm erwartete. Dem gemeinsamen Verleger Murray gegenüber pries er Moores Charakter. So verfuhr er immer, wenn er der literarischen Kritik von Freunden ausweichen musste (in der gleichen Façon würde er später Shelley preisen). Doch dann hob er im selben Brief, um nicht Moore allein anzuschwärzen, zu einer wütenden Tirade gegen alle romantischen Dichter, allen voran sich selbst, an. Und würde auch fortan nicht müde werden, seine Verachtung für die Romantik, die Gefühlsduselei, das Pathos, den dummen Ernst, die reaktionäre Bodenständigkeit, die pseudofreie Rhythmik etc. an den Literaten seiner Generation zu tadeln. Auch tadelte er sich dafür, den Geschmack seiner Leser verdorben zu haben, die er mit all seinen „Larrys und Harrys und Pilgern und Piraten“8 angefixt („tried“) habe und weil niemand wie er dazu beigetragen habe, „diesen übertreibenden und verfälschenden Stil zu schaffen“. In Bezug auf seinen Orientalismus bekannte er: „Sie haben eine Moschee neben einem griechischen Tempel von reinster Bauart errichtet […], doch sie geben sich nicht mit ihrem grotesken Bauwerk zufrieden – es sei denn, sie zerstören das ältere und schöne, das vor ihnen da war und sie für immer und ewig beschämt. – Man wird mir entgegenhalten, dass ich selbst hierin nicht gerade unauffällig war (und es vielleicht noch immer bin); – richtig – und ich schäme mich darum; – ja, ich war einer der Erbauer dieses Babels, Stifter dieser Sprachverwirrung – aber nie unter den neidischen Zerstörern des klassischen Tempels.“ Völliger Unfug wäre es, dieses Zitat als antiislamisches Statement zu lesen. Die Moschee ist eine Allegorie, und die des Babels kommt der Sache noch näher. Es ist nicht die Moschee der Muslime, sondern die Fantasiemoschee der westlichen Exotisten. Der reine griechische Tempel steht im konkreten Fall für die an klassischen Idealen ausgerichtete Gedankenlyrik Alexander Popes, gegen den sich die Romantiker verschworen, und lässt sich im weiteren Sinne auch als Kontinuität abendländischer Aufklärung fassen. Hierin waren Byron und Goethe wirklich Brüder im Geiste. Sie halfen mit, dieses zivilisatorische Ideal in seinem Hegemonialanspruch herauszufordern, durch ihr Interesse an Volksdichtung und fremden Kulturen. Als Supplement und Korrektiv indes, nicht als Ersatz oder Gegenmodell. Denn auch in ihnen weste das Unbehagen an der Aufklärung und das zeitgeistige Faible für Phantasmagorien. Als dieses Unbehagen aber überall um sie herum dazu führte, den Tempel der Aufklärung schleifen zu wollen, um künstliche Mittelalterruinen, Moscheen und Pagoden an seine Stelle zu setzen, und Sokrates, Spinoza und Diderot dazu zu nötigen, als so etwas wie „koloniale Herrschaftsepisteme“ der serbischen Volksdichtung Vuk Karadzićs und den Upanischaden Platz zu machen, war für beide endgültig Schluss mit dem kulturrelativistischen Karneval, und sie wurden sich ihrer Mitschuld an dieser Entwicklung bewusst.

Eine Lösung: multidirektionale Respektlosigkeit

Wer die Heuchelei im verkrampften Respekt vor dem Fremden wittert, der es durch Internierung in Safe Spaces erst als solches markiert, wer all den invertierten Rassismus in der schuldgetriebenen Aufwertung fremder Kultur spürt sowie den provinziellen Eurozentrismus, für den das Fremde bloß als Planstelle für seine Affirmative Actions Eigenwert zu haben scheint, der wird zwischen Abwertung und Aufwertung nach dritten, vierten, fünften Wegen der Fremdwahrnehmung suchen: Solche wären: Realismus, aufgeklärte Gleichgültigkeit und eine spezifische Art der kosmopolitischen Respektlosigkeit, die nur insofern nicht des Rassismus überführt werden kann, als sie der eigenen Kultur gerechterweise die gleiche Geringschätzung schenkt wie der fremden – und im Idealfall auch gleich der Schnapsidee, Menschen kulturell zu definieren. Dabei ist es nicht so wichtig, ob das von authentischer Misanthropie, echtem Snobismus oder satirischer Rollenprosa herrührt, das Ergebnis zählt. Einen oft ermüdenden Effekt erwirkt diese Methode dadurch, dem betulichen Enthusiasmus der Kulturtouristen mit dick aufgetragener Unbeeindrucktheit zu begegnen. Und dient im Idealfall nicht der Diskreditierung lokaler Kulturen, sondern der Bildungssnobs, die einander in Weltoffenheit überbieten und letztlich was für die Reisekosten auch geboten bekommen wollen.

Ganz gut darin war der Globetrotter Mark Twain, doch seinen Meister fand die Methode im reaktionären Kotzbrocken Evelyn Waugh. Der englische Schriftsteller wurde nur aus Trotz Tory, weil alle seine Kommilitonen in Cambridge Sozialisten waren. So viel zu seinem politischen Verstand. Nichtsdestoweniger schuf er mit The Loved One (Tod in Hollywood) und dem Afrikaroman Scoop satirische Meisterwerke, die Linke wie Graham Greene und Theodor Adorno und mitunter auch Opfer des Kolonialismus zu schätzen wussten. Wer Byrons „Tempel reinster Bauart“, das architektonische Fundament abendländischer Zivilisation, die Akropolis, mit einem Stück „Stilton-Käse, den man mit Portwein übergossen hatte“ vergleicht, hat sich seinen Freibrief verdient, auch übers Morgenland zu ätzen.

1930 wurde er vom Daily Express als Berichterstatter nach Äthiopien zur Krönung des Kaisers Haile Selassie geschickt, ins (neben Liberia) einzige nicht kolonialisierte Land Afrikas. In seinem Buch Remote People ist weniger die unbeeindruckte Schilderung Äthiopiens aufschlussreich als die der Journalisten, Diplomaten und Projektemacher, die ihre Überheblichkeit mit kulturellem Respekt überspielen. Keine einzige britische Zeitung hätte sich dazu herabgelassen, das Elend und die Zurückgebliebenheit des Landes zu thematisieren. Mit einer Mischung aus machtpolitischer Konkurrenz um Einfluss beim äthiopischen Hof und dem Bedürfnis nach exotischem Märchenprunk taten die westlichen Akteure so, als würden sie Äthiopien auf gleicher Augenhöhe begegnen. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wahrheit weist ihnen Waugh nach, indem er die Zeitungsberichte genüsslich mit der erlebten Wirklichkeit kontrastiert. In Scoop ist seine Darstellung korrupter afrikanischer Autokraten und Revolutionäre geradezu schmeichelhaft im Vergleich zum Hohn, mit denen weiße Auslandsreporter und ihre Heimatredaktionen porträtiert werden, und seine Darstellungen des heruntergekommenen englischen Adels gelten als emblematisch. Widerwärtigerweise zeigte Waugh Verständnis für die Eroberung Äthiopiens durch die italienischen Faschisten. Doch auch hierin äußerte er eine schmerzhafte Wahrheit: „In weiten Teilen des Landes sind die Abessinier ebenso Fremde wie die Italiener.“ Bloß hatte die abessinische Herrscherkaste nicht so viele Menschen massakriert wie die Italiener. Zieht man das Motiv dieser Aussage, die Rechtfertigung des italienischen Kolonialismus, von ihrem Wahrheitskern ab, vermag dieser auch auf den rassistischen Kern manch anti- und postkolonialer Ansätze zu verweisen: dass sogenannte People of Color nicht nur lebende Denkmäler weißer Schuld sein wollen und nichteuropäische Kolonialismen, Genozide und Unterdrückung keine autochthone Formen der Selbstverwaltung darstellen.

Den griechischen Bauern des Jahres 1821 waren die griechischen Warlords einzig durch ihre Religion näher als die osmanischen Paschas, an deren Stelle diese sich setzten. Am Griechischen Unabhängigkeitskampf zerschellten alle ideologischen Projektionen. Doch bewährten sich dort Eigenschaften Byrons, die ihm von Idealisten gemeinhin als apolitisch oder zynisch vorgeworfen werden: seine Ideologielosigkeit, seine Indifferenz, sein Humor, seine Unsentimentalität. Aber auch sein einschlägiges ethnographisches Wissen. Die Galionsfigur aller Philhellenen war mitnichten Philhellene. Er mochte die Griechen nicht mehr als die Türken, und diese nicht mehr als die Engländer. Und doch war er nicht wie Evelyn Waugh nur Misanthrop, bloß entbehrte seine Menschenliebe der hochtrabenden Ideale, er mochte die Menschen mit all ihren Schwächen und zweifelte an ihrer bloß sittlichen Verbesserung.

Stets unzufrieden mit seiner literarischen Persona, die er für eine eitle Scheinidentität hielt, drängte es ihn nach Taten, und seine letzte große Naivität spülte ihn in ein schlammiges Loch namens Mesolongi am Golf von Patras. Dieses bizarre Schlusskapitel verlieh seinem Leben eine heroische Volte, gegen die alle nationalen und romantischen Deutungen seines Opfers für Griechenland verblassen. Dort gab er dem Byron’schen Helden eine völlig neue Bedeutung, die ihn zum Ehrengast in Albert Camus‘ Mythografie des Absurden machte und der am ehesten im Hotelbesitzer Brown aus Graham Greenes Roman The Comedians9 reinkarniert. Brown avanciert im Haiti der 1960er-Jahre wider Willen zum Kommandanten einer kampfunerfahrenen Partisanentruppe gegen das Regime des Diktators Jean-Claude Duvalier und hält vor ihnen eine denkwürdige Ansprache: „Was für ein Haufen hoffnungsloser Narren wir sind. Ihr wisst nicht, wie man kämpft, ich weiß nicht, wie man kämpft. Seht uns an: dort, ein Maler, da, ein Barkeeper, und ihr, der Auswurf der Slums. Das ist meine glorreiche Truppe.“ Wer Brown hier Rassismus oder Klassismus oder was auch immer vorwerfen will, sollte sich vergegenwärtigen, dass er mit diesen hoffnungslosen Narren vermutlich in brüderlicher Einheit sterben wird. Auch Byron wusste um die Vergeblichkeit seines Engagements, und er ahnte, dass er von diesem Abenteuer nicht zurückkehren werde. Charles Francis Napier, dem Gouverneur der Insel Kefalonia, vertraute er an: „Ob ich scheitere oder nicht scheitere, ich kann kaum eine Enttäuschung erleben – denn ich habe von Anfang an gewusst, dass ich einen sinnlosen Gang tue.“

Eines wusste er zunächst nicht: für welche Aufgabe ihn das London Greek Committee eigentlich vorgesehen hatte. Als er es endlich erfuhr – er sollte die Distribution des englischen Kredits für die Aufständischen koordinieren – wurde er vor Ort immer mehr in die Rolle eines militärischen Führers gedrängt. Man hatte ihn für die publicityträchtige Stürmung der Festung von Lepanto vorgesehen und mit der albanischen Besatzung dort ein Scheingefecht vereinbart, wonach diese, gut besoldet, abziehen könne. Doch dann kam der Winterregen, die Albaner warteten umsonst, besiegt zu werden, und im April 1824 starb ihr potenzieller Bezwinger an den Aderlässen seiner Ärzte.

Als er das letzte Mal die Augen öffnete und die Aufstellung der um ihn Bangenden um sein Bett herum gewahrte, sprach er die Worte: „Oh questo è una bella scena“ – und wachte nicht mehr auf. Questa bella atto – ein wahrlich schöner letzter Akt war sein Auftritt in Mesolongi. Alles was er dort tat, Korrespondenzen, Maßnahmen, Habitus und Witz, zeugten von einer Klarheit des Geistes und einer Entschlossenheit, die sein vorangegangenes Leben vermissen ließen, so als ob sich die disparaten und losen Stränge zum Schluss hin doch noch zu einer konsistenten Person verflochten hätten.

Ähnliche Bestialitäten, welche die Hamas am 7. Oktober 2023 an israelischen Menschen verübte, waren in allen kolportierten Details bereits im Frühling 1821 an den Juden und Muslimen Griechenlands begangen worden. 30.000, beinahe die gesamte nichtchristliche Bevölkerung, waren ausgelöscht worden, und glücklich konnten sich jene schätzen, denen die Gnade eines schnellen Todes zuteil wurde.

Byron war in keine einzige Kampfeshandlung verwickelt worden. Doch sagt das nichts über seinen Mut aus, an dem er es nicht fehlen ließ: Er stellte sich seinem marodierenden albanischen Regiment entgegen und löste es auf. Und er rettete an die dreißig Muslimen, die sich vor dem Mob versteckt hielten, das Leben. Die Gattin des Hussein Aga und deren elfjährige Tochter Hatice nahm er unter persönlichen Schutz, und es schien ihm Genugtuung zu bereiten, die Mesolongioten zu provozieren, indem er den beiden elegante Kleidung schneidern ließ und mit ihnen stolz erhobenen Hauptes durch die Gassen der Stadt ritt. Die restlichen „Türken“ ließ er auf deren Wunsch hin nach Prevesa segeln. Dem dortigen britischen Konsul Mr. Mayer schrieb er: „Sir, – Als ich nach Griechenland kam, war eines meiner Hauptziele, das Elend eines so grausamen Krieges wie dem gegenwärtigen so weit wie möglich zu lindern. Wenn es um das Gebot der Menschlichkeit geht, kenne ich keinen Unterschied zwischen Türken und Griechen..”

Diese Rettung war ohne Zweifel die größte Heldentat im Leben Byrons und eine der seltenen vorbildlichen des gesamten Unabhängigkeitskrieges. Er hatte doch keinen sinnlosen Gang getan. Durch seinen frechen Kulturrelativismus hindurch, mit dem er den englischen Ethnozentrismus foppen wollte, bäumte sich mächtig der Universalismus der Humanität auf. „Wer ein Menschenleben rettet“, so das bekannte Zitat aus dem Talmud, „dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört.“ Im 8. Canto seines Don Juan hatte Byron einen ähnlichen Gedanken formuliert:

The drying up a single tear has more
Of honest fame, than shedding seas of gore.

Good boy.

1 Vermutlich meint Cantemir damit die um 1700 gebräuchliche Reichswährung Piaster.
2 Ob Cantemir hier bloß das mit den Tscherkessen (Adygen) eng verwandte Kaukasusvolk der Abasinen meint oder auch die sprachlich mit beiden nah verwandten Abchasen, ist unklar.
3 Megrelier und Georgier werden hier als unterschiedliche Gruppen geführt, vermutlich, weil zu Cantemirs Zeit ein unabhängiges Fürstentum Megrelien bestand. Ethnonyme sind zu dieser Zeit generell nie einheitlich und nie deckungsgleich mit ethnischen Identitäten, mal sind es Fremd-, mal Eigenbezeichnungen, mal auf Territorien, mal auf Herrschaftsdomänen, mal auf echte Stämme bezogen.
4 Ich habe mir erlaubt, nicht auf Schlegels Übersetzung zurückzugreifen, sondern diese Sentenz selbst zu übertragen. Schlegel unterschlägt pietätvoll die Anrufung Jesu. Dass er „the pox of ...“ mit „zum Henker mit ...“ überträgt, ich mit „zum Teufel mit ...“ ist insofern legitim, als die eigentliche Bedeutung, jemanden die Syphilis an den Hals zu wünschen, der damals gebräuchlichste Fluch, im Englischen selbst verblasst war und eine wortwörtliche Übersetzung in diesen dermatologischen Dreisilber dem Ausruf Schwung und Kraft genommen hätte. Schlegel übersetzt „blade“ wörtlich mit „Klinge“, ich bin mir aber sicher, dass es sich um ein Metonym handelt mit der gebräuchlichen Bedeutung „Draufgänger“, „verwegener Kerl“ und diese Verwendung zu Shakespeare Zeiten gerade ihren Einstand in den Slang feierte.
5 Mohammed Sharafuddin: Islam and Romantic Orientalism; Literary Encounters with the Orient. (1994).
6 Abdur Raheem Kidwai: Orientalism in Byron’s ‘Turkish Tales‘. (1995).
7 Naji B. Oeuijan: A Compendium of Eastern Elements in Byron’s Oriental Tales (1999).
8 Mit Larry ist die Hauptfigur seines Stücks Lara gemeint, mit Harry und Pilger Childe Harold’s Pilgrimage, mit Pirat sein Werk The Corsair.
9 Auf Deutsch: Die Stunde der Komödianten. Dieses Zitat fehlt im Roman, weil die ganze besagte Szene fehlt. Und trotzdem stammte es von Graham Greene, der das Drehbuch zur Verfilmung schrieb und darin seiner Geschichte m. E. sogar mehr Spannung und Konsistenz verlieh. Gespielt wurde Mr Brown von Richard Burton.

Byron-Denkmal im »Garten der Helden« in der griechischen Stadt Mesolongi, wo sein Herz begraben wurde. (Bild: Jean-Pierre Dalbéra (CC BY 2.0 Deed))