»Der Blues ist die Essenz von allem«

Am 22. Juni ist der Freejazz-Saxofonist Peter Brötzmann daheim in Wuppertal 82-jährig verstorben. Andreas Fellinger erinnert an die große Persönlichkeit und an Brötzmanns schier unermesslichen Aktionsradius.

Energie, Intensität, Radikalität – ohne diese drei Begriffe wird man in der Charakterisierung der Musik von Peter Brötzmann kein Auslangen finden. Vor allem in den Anfängen, als das erzkonservative Nachkriegs-deutschland noch von Gesinnung und Personal der NS-Zeit geprägt war. Und spätestens als er mit seinem Oktett die Platte Machine Gun abfeuerte, blieb – nicht nur im Jazz – kein Stein mehr auf dem anderen. Bis heute gilt die Platte als Meilenstein des Freejazz, vor allem, aber nicht nur des europäischen.

Die sogenannte 68er-Bewegung emanzipierte sich in der Musik auf mehreren Ebenen von den US-amerikanischen Vorbildern – gleichwohl für Brötzmann der Jazz von Persönlichkeiten wie Duke Ellington und Coleman Hawkins bis hin zu Albert Ayler essentiell bleiben sollte. 1968 gründete Brötzmann zusammen mit dem Bassisten Peter Kowald, dem Pianisten Alexander Schlippenbach und dem Produzenten Jost Gebers das Total Music Meeting, das immerhin 40 Jahre Bestand haben sollte. Ein Jahr später startete dieselbe Viererbande die Free Music Production, später kurz FMP genannt. Insbesondere Jost Gebers schuftete in beiden Funktionen Tag und Nacht und verantwortete hunderte Konzerte, Workshops und Platten, die ihre Schatten bis weit in die Zukunft warfen. 

Brötzmann hat das Globe Unity Orchestra, die erste bedeutetende Impro-Großformation in Europa, mitbegründet. Und mehr als zehn Jahre schrieb er in seinem legendären Trio mit Fred Van Hove und Han Bennink Geschichte; später aufgrund von Konflikten ohne Van Hove. In einem Interview begründete er diesen Schritt so: »Die Trommler standen mir immer näher als die Klavierspieler, muss ich ehrlich sagen, und da hab ich mich entschieden, mit Bennink weiter zu machen.« Diese Vorliebe unterstreichen einige der Drummer, die im Lauf seiner langen Karriere mit ihm trommelten: außer Bennink waren das u.a. Sven-Åke Johansson, Rashied Ali, Andrew Cyrille, Louis Moholo, Antonio Fier, Paul Lovens, Michael Zerang, Michael Wertmüller und Hamid Drake. Brötzmann ist es aber, wie er sagt, »auch gewohnt, mit Kontrabassisten zu spielen, und ich hab auch glücklicherweise mit den besten, die es gibt, gespielt. Mit Fred Hopkins oder William Parker, mit Buschi Niebergall und mit Peter Kowald, um nur einige zu nennen. Auch die beiden E-Bassisten, mit denen ich arbeite, Marino Pliakas und Massimo Pupillo, haben auf ihrem Instrument ganz eigene Möglichkeiten entwickelt. Da kann und will ich auch überhaupt nicht nein sagen.«

Über Derek Bailey, mit dem er ebenfalls häufig konzertierte, entstand der Kontakt zur New Yorker Szene. Daraus sollte bald ein wegweisendes Kraftpaket entstehen: Last Exit, mit Bill Laswell, Sonny Sharrock, und Ronald »Shannon« Jackson. Andere bedeutende Spielpartner aus dieser Zeit und danach waren, neben zahlreichen anderen, Don Cherry, Cecil Taylor, Willem Breuker, Evan Parker, Misha Mengelberg, Steve Lacy und Werner Lüdi. Mit seinem Sohn Caspar, der als Gitarrist ebenfalls seit jeher härtere Bandagen anlegt, musizierte Peter Brötzmann nicht nur in der furiosen, mehrköpfigen März Combo, er spielte mit ihm auch die Duoplatte Last Home ein, mit einem für damals bezeichnenden Foto der beiden auf dem Cover, aufgenommen vor einem Wodka-Laden. 

Für viele Jahre zu seinem wichtigsten Umschlagplatz wurde das Peter Brötzmann Chicago Tentet mit den profiliertesten Akteuren der dortigen Szene. Brötzmann über dieses Ensemble: »Was für mich so interessant und auch so befriedigend mit dem Tentet ist, dass jeder seine Verantwortung wahrnimmt, jeder um seine Freiheit weiß, aber auch um die Freiheit, mal nicht zu spielen und trotzdem dabei zu sein. Es ist immer eine Interaktion. Man muss, ob man spielt oder nicht, da sein.« Auch nicht von schlechten Eltern war sein aus dem Tentet destilliertes Saxofontrio Sonore mit Ken Vandermark und Mats Gustafsson.

Nicht zu vergessen ist freilich Brötzmanns Japan-Connection, also seine Arbeiten u.a. mit Keiji Haino, Shoji Hano, Michio Yagi und, am frühesten und häufigsten, Toshinori Kondo. Mit ihm, mit William Parker und Hamid Drake bildete er das weltbewegende Quartett Die Like A Dog, das live und im Studio für Großtaten gut war. Und Kondo war auch Teil der Hairy Bones, zusammen mit Brötzmann, Massimo Pupillo und Paal Nilssen-Love. Gelegentlich kam es zu Zusammenarbeiten mit dem marokkanischen, wie er es nannte, »Gania-Clan«, also mit Mahmout und dessen Sohn Mokhtar Gania, besonders berührend dokumentiert auf dem Live-Mitschnitt The »Wels« Concert.

Bleibt noch als weitere fixe Formation das Trio Full Blast zu erwähnen, ein vehementes Straight-forward-Ensemble mit Marino Pliakas am E-Bass und dem Drummer Michael Wertmüller. Brötzmann dazu: »Das sind zwei Leute, auf die ich mich von der ersten Sekunde an verlassen kann. Abgesehen davon, verfügt Wertmüller über eine Technik, die auch unter großen Jazztrommlern zu suchen ist.«

Unzählige grandiose Konzerte bleiben in Erinnerung: in Wien im Porgy & Bess und im Blue Tomato selig, bei Festivals in Nickelsdorf, in Ulrichsberg, in St. Johann/Tirol – und insbesondere in Wels, wo Brötzmann 2011 die 25. unlimited-Ausgabe anlässlich seines 70ers kuratierte und für sein Alter verblüffend oft selber auf der Bühne stand. Die 5-CD-Box Long Story Short (Trost) ist ein schönes Dokument davon. 

In jüngerer Vergangenheit kooperierte der Wuppertaler mit der Pedal-Steel-Gitarristin Heather Leigh. Auf Brötzmanns Kooperationskonto gehen außerdem so differente Akteure wie der Minimal-Music-Aktivist Michael Nyman und die krachlederne Free-Rock-Combo Oxbow. Im Zuge des Oxbow-Auftritts im Moers ‘22 bekannte Brötzmann, was manche schon länger vermutet hatten: »Der Blues ist die Essenz von allem, was ich mache!«

Auch wenn Peter Brötzmann in vielerlei Hinsicht nicht zimperlich war, so bestand seine Musik keineswegs, wie mancherorts hartnäckig behauptet, zu hundert Prozent aus teutonischer Kraftmeierei. Fast im Gegenteil, hatte sie vor allem in der späteren Phase immer auch eine sanfte, lyrische Komponente. »Raue Schale, weicher Kern«, charakterisiert ihn etwa der Nickelsdorfer Hans Falb. Davon zeugt etwa seine letzte Einspielung, die Soloplatte I Surrender Dear, auf der er sich vor dem American Jazzbook verneigt. 

Es waren aber nicht nur die Saxofone, die Klarinetten und das Tárogató, die Peter Brötzmann bespielte. Er war auch in der bildenden Kunst aktiv, nicht erst seit seiner Assistenz des Fluxus- und Medienkünstlers Nam June Paik. Zudem gestaltete er grafisch unvergleichliche Platten- und CD-Covers. »Ich habe immer meine eigenen Schriften benutzt«, erzählte er. »Wenn ich ein Cover mache für die und die Musik, geht’s mir darum, dass da irgendwie, jedenfalls für mich, fühlbar Korrespondenzen da sind.« Auf die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Malerei erklärte er: »Ich denke schon, dass Maler einen Vorteil haben, den ihnen zur Verfügung stehenden Freiraum dialektisch zu füllen. Musiker denken doch ziemlich linear. Ich denke, dass ich schon ein bisschen begriffen habe, wie das mit der Dialektik funktioniert. Und wie es, wenn ich so anfange, enden kann.«

Wie Peter Brötzmann, der sich selbst als »alter Kommunist« bezeichnete, politisch tickte, verdeutlicht, um nur ein Beispiel herauszugreifen, seine als Single produzierte Freejazz-Version von Bertolt Brechts und Hanns Eislers Einheitsfrontlied. Im genannten Interview sagte er: »Wir werden heutzutage in unseren persönlichen Rechten eingeschränkt und beschnitten. Und ich versuche eben mit der Musik Freiräume zu schaffen für jeden. Wenn die dann wahrgenommen werden, dann geht’s mir schon ganz gut.«

 

Eine geringfügig veränderte Version dieses Nachrufs befindet sich in freiStil #109 (Sep/Okt)