Nachlass zu Lebzeiten

Aus Anlass von dessen 50. Todestag erklärt Magnus Klaue, warum Max Horkheimer kaum ein intellektuelles Nachleben und nur wenige Schüler hatte.

In diesem Jahr hat in Frankfurt am Main ein Doppeljubiläum stattgefunden, das als solches kaum wahrgenommen wurde. Das 1923 in Frankfurt begründete, nach der Schließung durch die Nationalsozialisten und der Emigration seiner Mitarbeiter zunächst in Genf und dann in New York angesiedelte und schließlich seit 1951 in dem neu errichteten Gebäude an der Frankfurter Senckenberganlage ansässige Institut für Sozialfor-schung (IfS) beging im Mai seinen 100. Geburtstag. Am 7. Juli wurde, unabhängig von diesen Feierlichkeiten und vom IfS kaum bemerkt, an den 50. Todestag seines einstigen Direktors Max Horkheimer erinnert. Ob 2023 als das 100. Jubiläumsjahr des IfS gelten kann, ist durchaus fragwürdig. Offiziell eingeweiht wurde das – an der Viktoria-Allee, der heutigen Senckenberganlage, errichtete – alte Institutsgebäude erst ein Jahr später, am 22. Juni 1924. Im Mai 1923 hatte jedoch – nicht in Frankfurt, sondern im thüringischen Geraberg – unter der Ägide des Mitbegründers und Mäzens des IfS, Felix Weil, die von Karl Korsch initiierte Erste Marxistische Arbeitswoche stattgefunden, an der künftige Institutsmitarbeiter und -mitstreiter wie Friedrich Pollock und Karl August Wittfogel, aber auch der Kommunist und Staatstheoretiker Richard Sorge sowie Georg Lukács, später einer der wichtigsten Antagonis-ten Horkheimers und Adornos, teilnahmen. Horkheimer, der 1931, nachdem Carl Grünberg, der Direktor des IfS, einen Schlaganfall erlitten hatte, auf Vorschlag Felix Weils zu dessen Nachfolger ernannt und im selben Jahr Ordinarius für Sozialphilosophie an der Frankfurter Universität wurde, kam erst später eher von außen zu diesem Kreis hinzu. Auch veränderte sich das IfS unter Horkheimers Direktorat bald in einer Weise, die nicht anders denn als Distanznahme zum Programm der Ersten Marxistischen Arbeitswoche verstanden werden konnte. Hatte mit dem Austromarxis-ten Grünberg ein Staatsrechtswissenschaftler und Ökonom dem Institut vorgestanden, verlagerte sich unter Horkheimer der Interessenschwerpunkt auf Fragen der Sozialphilosophie und Psychologie.

Um die massenpsychologischen Triebkräfte des Nationalsozialismus angemessen zu analysieren, schien Horkheimer und Pollock eine Neubegründung des Begriffs und der Methoden empirischer Sozialfor-schung nötig, mit der eine scharfe Kritik des Positivismus und eine Hinwendung zur Psychoanalyse einherging. Erich Fromms 1929 entstandene Studie über Arbeiter und Angestellte und deren Verhältnis zum Nationalsozialismus sowie Siegfried Kracauers 1930 erschienener Essay »Die Angestellten« sind frühe Zeugnisse dieser erkenntniskritisch orientierten empirischen Sozialforschung, ohne die die späteren Arbeiten zum autoritären Charakter undenkbar gewesen wären. Statt die Jubiläumsfeiern dafür zu nutzen, diesen Zusammenhang ins Gedächtnis zu rufen, veranstaltete das IfS aber unter dem Titel »Unhaltbare Zustände« eine »Zweite Marxistische Arbeitswoche«, ganz so, als ließe sich wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von einer Arbeiterklasse sprechen, als wären die Begriffe des Marxismus nicht durch die Kollaboration der Linken und der Arbeiter mit dem Nationalsozialismus korrumpiert, als hätten nicht das Scheitern des Pazifismus und die Niederschlagung der Novemberrevolution bereits nach dem Ersten Weltkrieg das Festhalten linkssozialistischer Bewegungen am geschichtsoptimistischen Pathos von Fortschritt und Revolution fragwürdig gemacht. Indem die Erste Marxistische Arbeitswoche dem heutigen IfS als ikonisches Gründungsdatum erscheint, gibt das Institut gerade die Aspekte des eigenen Erbes preis, die genuin mit Horkheimer verbunden waren und in denen sich die Kritische Theorie vom akademischen Marxismus unterscheidet: die Skepsis gegenüber der Fusion von Agitation und Begriff; die Bemühung, die Reflexion auf die Historizität des eigenen Denkens in dieses selbst hineinzunehmen.

Preisgegeben wird gleichfalls ein Gedanke, den John Abromeit in seiner 2011 erschienenen Studie »Max Horkheimer And The Foundations Of The Frankfurt School« entwickelt hat: dass nämlich das IfS, sofern man es als Topos statt nur als Institution begreift, nicht ein Gründungsdatum, sondern mehrere hat, die einander widersprechen. So wenig wie das IfS nach Übernahme des Direktorats durch Horkheimer das gleiche geblieben war wie zuvor, so stark hatten sich seine Ziele und seine Arbeitsweise mit der Emigration seit 1933 verändert. Als Horkheimer seinen Lebensschwerpunkt von New York nach Kalifornien verlagerte, wo er von 1942 an gemeinsam mit Adorno an der »Dialektik der Aufklärung« zu arbeiten begann, und damit in gewisser Weise den geistigen Ort der Kritischen Theorie von ihrem institutionellen Ort trennte, organisierten sich die topographischen und lebensweltlichen Bedingungen noch einmal neu. Schließlich bedeutete die Neugründung des IfS in der Bundesrepublik unter den Bedingungen des Kalten Krieges, angesichts dessen Horkheimer und Adorno eine dezidiert westliche, antisowjetische Haltung einnahmen, ebenso wenig eine Rückkehr zu den Frankfurter Institutsjahren, wie die Protagonisten der Kritischen Theorie ihre Rückkunft als Rückkehr begriffen. Auch das Jahr 1964, als – der Horkheimer verhasste und dennoch von ihm aus taktischen Gründen protegierte – Jürgen Habermas Nachfolger Horkheimers auf dessen Frankfurter Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie wurde, kann als Datum einer Neukonstitution der Kritischen Theorie in ihrer Schrumpfform als »Frankfurter Schule« begriffen werden. Sogar das Jahr 1986, als Rolf Wiggershaus‘ breitangelegte Studie »Die Frankfurter Schule« erschien, die alles, wozu die Kritische Theorie geworden war, ex post begriffsgeschichtlich absegnete, könnte als Datum einer Neugründung erscheinen.

All diese Widersprüche müssen begradigt werden, damit die Kritische Theorie wissenschafts-historiographisch in der Frankfurter Schule aufgeht und ihre Protagonisten zu Teilen der Vorgeschichte des heutigen IfS erniedrigt werden können. Das merkwürdige Vergessen Horkheimers, der im institutionellen Gedächtnis schon in den sechziger und siebziger Jahren hinter Adorno zurücktrat, gehört zu den Symptomen dieser Begradigung. Nicht nur erinnert in den Räumen des IfS nichts mehr an Horkheimer, dessen Gedächtnispflege vielmehr ins Horkheimer-Archiv in den Räumen der Universitätsbibliothek ausgelagert wurde. Auch spielt Horkheimer im Gegensatz zu Adorno, dessen symbolische Präsenz am IfS die Entsorgung seines Denkens kompensiert, im Selbstverständnis der Institution, der er lange Zeit vorstand, nicht einmal rhetorisch eine Rolle. Das mag daran liegen, dass er die Widersprüche, die sich im IfS sedimentiert haben, stärker verkörpert als der acht Jahre jüngere Adorno. Dieser kam aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen – die Mutter Opernsängerin, der Vater Weinhändler –, während Horkheimer als Sohn eines zum millionenschweren Textilfabrikanten aufgestiegenen Lumpenhändlers dem jüdischen Großbürgertum angehörte, sich in jungen Jahren als Bolschewist verstand, Rosa Luxemburg verehrte und den Selbstverrat der deutschen Arbeiterbewegung, der im Ersten Weltkrieg und schroff dann im Nationalsozialismus zur Geltung kam, ungleich schwerer als Adorno nahm. Anders als Adorno hat Horkheimer mit der Neuauflage älterer Texte aus den dreißiger und vierziger Jahren stets gehadert und ist dem Wunsch der Studentenbewegung nach deren Zugänglichmachung nur partiell nachgekommen. Erst seit den späten Sechzigern brachte er mit dem »Dokumentation« genannten Doppelband »Kritische Theorie« und mit der Sammlung »Gesellschaft im Übergang« (1972) historisierend kommentierte Zusammenstellungen älterer Arbeiten heraus, während er selber immer weniger Neues veröffentlichte. Der Hauptteil seiner seit 1960 geschriebenen Texte besteht aus nachgelassenen Notizen.

Gleichsam apokryph sind auch Horkheimers Schüler geblieben. Während sich in der Nachfolge Adornos eine ganze Ausdeutungsindustrie etabliert hat, beschäftigen sich mit Horkheimer außerhalb der Wissenschaftsgeschichtsschreibung allenfalls ein paar versprengte Tierschützer und Ökologen, die missverstandene Schlagworte seines Spätwerks, etwa aus dem 1968 entstandenen Essay »Der Planet – unsere Heimat«, aufgreifen, um sich eine ganzheitliche Umweltphilosophie daraus zu basteln, oder die Horkheimers – in den Fragmenten zur »Dialektik der Aufklärung« (»Mensch und Tier«, »Interesse am Körper«) formulierte – Einsicht, dass der Umgang der Menschen mit den Tieren Index der Selbstverachtung der Menschen sei, für eine menschenfeindliche Tierschutzapologie in Dienst nehmen. Daran stimmt so wenig wie an der ebenfalls oft kolportierten Annahme, Horkheimer habe im Alter zur Religion – sei es zur jüdischen oder katholischen – gefunden, wie sie von Gegnern als Beleg seines reaktionären Denkens und von falschen Anhängern wie Pascal Eitler (in seiner 2009 erschienenen Studie »Gott ist tot – Gott ist rot«) als Indiz für eine »Politisierung von Religion« nach 1968 genommen wird. Tatsächlich zeugt Horkheimers Spätwerk, wie es sich in seinen Nachlassnotizen und Interviews darstellt, nicht von einer Hinwendung zur Religion, sondern von einer Rückkehr zu Fragen der Theologie und Ontologie, die als Antwort auf die Fusionierung von Positivismus und Relativismus im Zuge strukturalistischer akademischer Moden einen Zeitkern hat.
An diese theorieimmanente Revokation von Theologie und Ontologie schlossen auch die wenigen Autoren an, die sich im vollen Sinn als Schüler Horkheimers bezeichnen lassen. Das gilt zuallererst für den 2012 verstorbenen Alfred Schmidt, der 1960 mit der Arbeit »Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx« bei Horkheimer promovierte und Horkheimers 1947 erschienene Arbeit »Eclipse Of Reason«, eine für das amerikanische Publikum geschriebene Propädeutik zum Verständnis der »Dialektik der Aufklärung«, zwanzig Jahre später unter dem Titel »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« ins Deutsche übersetzte. 1972 wurde Schmidt in später Wiedergutmachung für die von Habermas verursachten geistigen Verheerungen Nachfolger auf dessen Frankfurter Lehrstuhl und damit ein später Nachfolger Horkheimers. Schmidt hat mit seinen Büchern »Zur Idee der Kritischen Theorie« (1974), »Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie« (1976) und »Drei Studien über Materialismus. Schopenhauer. Horkheimer. Glücksproblem« (1977), durch Herausgabe von Horkheimers »Gesammelten Schriften« bei S. Fischer sowie durch Beteiligung am Aufbau des Horkheimer-Archivs Entscheidendes dafür getan, die Erinnerung an die Kritische Theorie gegen die Selbsthagiographi-sierung des IfS zu konturieren. Gegen den Geschichtsbegriff des Strukturalismus, aber auch gegen Jean-Paul Sartres Existenzphilo-sophie hat er die Begriffe der Konstellation und des dialektischen Sprungs verteidigt und im Anschluss an Arthur Schopenhauers Rehabilitierung von Kants Erkenntniskritik gegen den Geschichts-hegelianismus die materielle Konstituiertheit allen Denkens, sein Vermitteltsein durch leibliche Erfahrung, geltend gemacht. 1984 hat er in »Goethes herrlich leuchtende Natur« einen an Schopenhauer gewonnenen Begriff der Materie gegen die starre Subjekt-Objekt-Dialektik des approbierten Marxismus in Erinnerung gerufen.

Die Bedeutung hervorgehoben zu haben, die ein an Kant gewonnener Begriff des Objekts für jegliche kritische Theorie haben muss, ist auch ein Verdienst des ein Jahr vor Schmidt verstorbenen Karl Heinz Haag. Haag, der an der von Jesuiten geführten Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen sein Philosophicum erwarb und 1951 bei Horkheimer mit einer Arbeit über »Die Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie« promovierte, verließ nach Jahren als Assistent und außerplanmäßiger Professor 1971 auf eigenen Wunsch die Frankfurter Universität und lebte als Privatgelehrter. Seine bedeutendsten Studien – »Der Fortschritt in der Philosophie« (1983) und »Meta-physik als Forderung rationaler Weltauffassung« (2005) – entstanden in diesem Zeitraum. Darin entwickelt er in einem verdichteten, an Exerzitien erinnernden Stil die konstitutive Unauflöslichkeit des Subjekt-Objekt-Antagonismus als Bewegungsgesetz abendländischer Philosophie, das sich an der Unmöglichkeit einseitiger Parteinahme für rationalistische oder nominalistische Denkschulen offenbare. Haag wie Schmidt waren Horkheimer bis zu dessen Tod persönlich eng verbunden, Horkheimer unterstützte Haag bei dessen Wechsel ins Privatgelehrtendasein materiell und ideell, Schmidt wurde durch ihn bei den Freimaurern eingeführt und war seither Mitglied der Frankfurter Loge »Zur Einigkeit«. Sein 2014 posthum erschienenes Buch »Entstehungsgeschichte der humanitären Freimaurerei« ist ein Ergebnis dieser Initiation.

Auch die geistigen Physiognomien anderer Horkheimer-Schüler ließen sich wohl eher als Geschichten eines persönlichen Austauschs denn als »Rezeptionsgeschichten« erzählen, etwa die von Eleonore Sterling, die 1938 mit 13 Jahren in die USA emigrierte, dort an der Columbia University zum ersten Mal in Kontakt mit der Kritischen Theorie kam, nach Kriegsende nach Deutschland zurückkehrte und bei Horkheimer mit einer Arbeit über »Antisemitismus in Deutschland 1789–1819« promovierte, aus der ihr 1956 veröffentlichtes, seinerzeit vielgelesenes Buch »Er ist wie du« hervorging. Sterling, die Dozentin für politische Bildung in Frankfurt war und 1968 im Alter von nur 43 Jahren starb, führte angesichts ihrer in den fünfziger Jahren gehegten Pläne einer Rückkehr zum orthodoxen Judentum mit Horkheimer einen umfangreichen, von gegenseitiger Hochachtung getragenen Briefwechsel, in dem Horkheimer seiner Skepsis gegenüber neu entdeckter Religiosität deutlichen Ausdruck verlieh. Aber auch das ist nichts als die Fußnote zu einer Wirkungsgeschichte, die nie wird geschrieben werden können, weil sie zugleich die Geschichte eines unwiderruflichen Vergessens wäre.

Max Horkheimer mit seiner Frau Rose Riekher (1958) (Foto: Barbara Niggl Radloff (CC BY-SA 4.0))