Is Pride Still A Riot?

Vor dem Hintergrund spätkapitalistischer Selbstoptimierungsideologien beschäftigt sich Tina Sanders mit der Geschichte des Christopher Street Day und dem ihm unterstellten subversiven Potenzial.

Der englische Begriff Pride benennt einen gewissen Stolz und eine starke Selbstsicherheit, mit der die Lesben- und Schwulenbewegung ihre sexuellen Neigungen öffentlich kundtut oder bestätigt, anstatt sie zu negieren oder sich dafür zu hassen oder zu schämen. In London fand 1972 der erste Gay Pride March statt, in New York heißt die Parade seitdem Christopher Street Day oder CSD, da hiermit der Stonewall Riots gedacht werden soll. Diese fanden 1969 statt, nachdem im Stonewall Inn auf der Christopher Street in Manhattan, das – aufgrund der Illegalität von Gay Bars – von der Mafia betrieben wurde, die Polizei eine gewaltsame Razzia durchführen wollte, wie sie es dort und anderswo bereits mehrfach getan hatte. Darauf bekämpften Anwohner des Stonewall, Nachbarn, Lesben, Schwule und Drag Queens die NYCP in dieser und den darauf folgenden Nächten, wodurch die Stonewall Riots erheblich zur anfänglichen politischen Organisation von Schwulen und Lesben beitrug. Ab 1979 fanden auch in deutschen Städten, ab 1984 außerdem in Wien die ersten Demonstrationen zum CSD statt. Der erste CSD in NYC 1970 war als Gedenktag an die Riots und das Sich-zur-Wehr-Setzen von Schwulen und Lesben konzipiert, auf dem jedoch auch gegen Repression und Verbote von Homosexualität, Diskriminierung bei der Wohnungs- und Jobvergabe und die Mafia protestiert wurde. In den darauf folgenden Jahrzehnten wurden überall im Westen Gay Liberation Parades, Gay Pride Parades oder CSDs abgehalten, um die Entkriminalisierung von Homosexualität und ein Ende von homo- und später auch bi- und transphober Diskriminierung und Gewalt zu fordern und ihrer Opfer und jener der AIDS-Krise zu gedenken.

 

In Österreich wurde Homosexualität erst 1971 legalisiert. Bis z.B. das Jugendschutzalter bei schwulem Geschlechtsverkehr dem heterosexuellen angepasst war, dauerte es im dann bereits wiedervereinten Deutschland bis 1994 und in Österreich bis 2002. Erst 2017 wurde in Deutschland das 2001 eingeführte Lebenspartnerschaftsgesetz, das lesbischen und schwulen Paaren die Adoption verwehrte, durch das Recht auf Ehe ersetzt – im Vereinigten Königreich geschah dies 2013. 1984 und '85 fanden sich in England unter dem Namen Lesbians and Gays Support the Miners mehrere Gruppen von Homosexuellen zusammen, um den damaligen – leider erfolglosen – Streik der Bergbaugewerkschaft National Union of Mineworkers gegen Margaret Thatcher zu unterstützen. Es war ein solidarisches Bündnis: So führten Bergarbeiter 1985 die Lesbian and Gay Pride in London an und sorgten dafür, dass die Labour Party seitdem auch offiziell die Rechte von Schwulen und Lesben unterstützt. Da damals und auch danach LSGM und ähnliche Abspaltungen der Gruppe an Demonstrationen und Konferenzen der streikenden Arbeiter und ihrer Familien teilnahmen, für sie Spenden sammelten und persönliche Beziehungen zu ihnen unterhielten, fand man sich bis 2016 immer wieder für gemeinsame Aktionen zusammen.

Doch auch wenn diverse wissenschaftliche, mediale und politische Beiträge, u.a. unter Bezugnahme auf den Slogan „The First Pride was a Riot“, die Geschichte der CSD- und Pride-Demonstrationen, sowie deren heutige Durchführung als revolutionär darstellen, ist die These vom revolutionären Potenzial des LGBT-Aktivismus schon für damals zu verneinen. Derlei klassenkämpferische Bestrebungen blieben die Ausnahme und sind eher dem Umstand zu verdanken, dass die treibende Kraft von LSGM, Mark Ashton, Trotzkist und mehr von kommunistischen Ideen als der Schwulenbewegung geprägt war. Revolution im radikalen Sinne lässt sich mit bürgerlichen Forderungen wie der Ehe für alle schwer umsetzen.

 

Diversität im Spätkapitalismus

 

Die Durchsetzung der Ehe für alle, sowie der Umstand, dass der teils sehr aggressive – jedoch im Vergleich kleine – Haufen christlicher Fundamentalisten, Konservativer und Rechtsextremer auf dem jährlich stattfindenden „Marsch für die Familie“ stets sowohl Gegenprotesten, als auch der Regenbogenparade mit ihren über 250.000 feierwütigen Besuchern gegenübersteht, zeigen, dass trotz einer FPÖ und ihren Wählern die Akzeptanz von Homo- und Bisexualität auch in der österreichischen Gesellschaft gestiegen ist. Laut u.a. der feministischen Philosophin Tove Soiland hat sich etwa in Deutschland seit den 1970ern das staatliche Geschlechterregime fundamental verändert. Ideologiekritische Ansätze zum Spätkapitalismus stellen außerdem fest, dass Rechte für Frauen, Homo- und Bisexuelle nicht nur erkämpft, sondern viel eher auch zwecks Ausweitung von Arbeits- und Konsumkraft zugestanden wurden. Heutzutage ist im – auch weiterhin latent homophoben – Westen diese Akzeptanz Zeitgeist, im Sinne von Diversität politische Staaträson und ein Erfolgsfaktor im ökonomischen Marketing. Der Sammelbegriff queer bietet allerdings nicht nur Homo- und Bisexuellen, mittlerweile auch Inter- und Transpersonen, die Möglichkeit, gehört und gesehen zu werden, sondern seine zunehmend ahistorische und sinnentleerte Verwendung auch zusehends ein Trittbrett, sich als queer zu verstehen – ohne tatsächlich dazuzugehören.

 

Der Grund hierfür liegt in der Rolle von Diversität und Differenz im Spätkapitalismus: Laut Andreas Reckwitz findet seit den 1980ern im Westen eine Transformation der Ökonomie statt – weg von einer mit standardisierten und funktionalen Waren, hin zu einer, in der Waren kulturell besonders zu sein haben. Postfordistische Objekte, Ereignisse, Dienstleistungen oder mediale Formate sollen Einzigartigkeit im Sinne von Authentizität und Originalität verkörpern, aber auch Identifikationspotenzial vermittels ethischer Parameter bieten (vgl. Reckwitz 2018, 113 & 122). Die Produktion dieser Waren und Dienstleistungen führt zu neuen Arten der Organisation und Arbeit, z.B. in der immer relevanteren creative economy, die zumeist auf digitalen Techniken, flexibler Spezialisierung, zeitlich limitierten und kulturell diversen Projektteams und/oder Netzwerken basiert (ebd. 113 & 199; Boltanski/Chiapello 2006 152 – 176, 191 – 193).

Der angeblich einzigartige Arbeiter soll daher über allgemein-standardisierte Qualifikationen wie einen Universitätsabschluss verfügen, darüber hinaus aber über unternehmerische, kulturelle, emotionale und soziale Kompetenzen, Talent und eine möglichst außergewöhnliche Persönlichkeit, sowie ein hohes Maß an Flexibilität, Eigeninitiative und somit Performanz vorweisen.

 

Da man z.B. im betriebswirtschaftlichen diversity management davon ausgeht, dass diverse Arbeitsteams, die z.B. Frauen inkludieren, den Gewinn und Erfolg des Unternehmens fördern, wird ihm gerne nachgekommen. Vielfalt im Sinne diverser Kompetenzen, Haltungen, Eigenschaften oder kultureller Hintergründe soll demnach nutzbar sein und Potenziale für die Unternehmen bergen (Lies o. J.)

Während die Thematisierung privater Angelegenheiten, wie der persönlichen sexuellen Neigung der Mitarbeiter, früher im Sinne der Antidiskriminierung als ein No-Go im Arbeitsumfeld erachtet wurde, wird mittlerweile im Zuge der freiwilligen Selbstoptimierung und -kontrolle der Mitarbeiter und des Identitätszwangs eine entsprechende Selbstauskunft erwartet, um diversity-Potenziale zu aktivieren (Möller 2021, 23). Aufgrund der Tendenz postmoderner Ökonomie, „den Menschen als Gesamtpaket der Mehrwertproduktion zuzuführen“ (ebd.), anstatt von seinen Mitarbeitern lediglich Arbeitskraft zu fordern, werden Arbeitssubjekte im Zuge von diversity nämlich als Träger z.B. bestimmter geschlechtlicher Merkmale verstanden und Differenzen betont. So werden laut Günter Burkart z.B. in Agenturen, NGOs oder den Wissenschaften, aber auch bei Dienstleistungen weiblich konnotierte Charaktereigenschaften wie Kommunikations- und Teamfähigkeit, Empathie und rationale Organisation immer öfter gleichzeitig von Arbeitern gefordert. Dies führt zu einem Abbau patriarchaler Strukturen in der Arbeitswelt – wovon Frauen wie auch Schwule profitieren, doch nicht zuletzt oft deswegen, weil ihnen im Sinne der geschlechtlichen Essenzialisierung stereotype Soft Skills und/oder Führungspotenzial unterstellt werden (vgl. Burkart 2015, 165; Möller 2021, 23)

 

Die Moralisierung von Arbeit und Konsum führt auch zur Überidentifikation von queeren Arbeitern und Konsumenten mit Unternehmen, die z.B. im Pride Month eine Regenbohnenfahne im Firmenlogo zeigen. Bereits 1999 gehen Luc Boltanski und Eve Chiapello davon aus, dass das Kapital sich immer wieder aus Krisen befreien kann durch die Entlehnung von Werten und Idealen, die zumindest vermeintlich dem Allgemeinwohl dienen, ohne jedoch seine Prämisse – die Vermehrung des Tauschwerts – in Frage zu stellen (Boltanski/Chiapello 2016, 42f.; Burkart 2015, 170).

Gesellschaftspolitische Ideale wie sexuelle und geschlechtliche Diversität und ihr selbstbestimmtes Ausleben wurden durch das individualistische Bedürfnis nach Selbstverwirklichung begünstigt und von ihm einverleibt (Boltanski/Chiapello 2016, 43 & 257). So trugen psychologische und pädagogische Leitbilder, die self growth und human potentials zur Priorität erheben, ebenso zur Verbreitung dieser Werte bei wie daran angelehnte Managementmethoden und die Etablierung linksliberal orientierter Policies (ebd. 134f.; Reckwitz 2018, 287).

Gesellschaftspolitisch werden, so Reckwitz, heutzutage primär „subjektive Rechte auf Persönlichkeitsentfaltung“ (ebd. 375). eingefordert. Omnipräsent ist im Westen die staatliche Prämierung von Besonderheit und Neuheit, Andersartigkeit sowie Außergewöhnlichkeit, sowohl in der innovationsorientierten Ökonomie als auch im Hinblick auf gruppenbezogene Rechte im Rahmen von Nichtdiskriminierung, Lebensqualität und Bezug auf gruppeneigene Werte, z.B. im Namen der Achtung geschlechtlicher Diversität. Diese wird vor allem von jungen, erfolgreichen und in der creative economy tätigen Akademikern als wertvoll angesehen, die oftmals als Kapitalisten Teil der herrschenden Klasse sind oder als Kleinbürger oder Manager deren Ideologien weiterverbreiten. Sie verknüpfen Diversität mit postmodernen Leitbildern wie Kosmopolitismus und Offenheit für Neues und Anderes, der Wert und das Erleben von kulturell Einzigartigem nehmen für sie hohe Priorität ein (ebd. 381f. & 284).

Da vor einigen Jahren die pink economy entdeckt wurde, also die queere Kaufkraft, sind LGBTIQ-Personen nun auch Zielgruppe für Netflixserien mit non-binary und trans-Charakteren, queere Podcasts und Showformate, Regenbogen-T-Shirts von H&M oder diejenigen, die selbst als LGBTIQ-Influencer oder queere Unternehmer durchstarten.

Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und -entfaltung hat das nach sozialer Anerkennung von Differenzen und Erfolg nicht verdrängt. Es findet sich in Forderungen nach Repräsentation und Inklusion und der Sehnsucht nach Identität in symbolpolitischer Identitätspolitik wieder, die seit den 80er und 90er Jahren zunehmend feministische und LGBTIQ-Theorie und -Aktivismus auch im europäischen Westen prägen – und laut Nancy Fraser vom Kapital einverleibt wurden (Fraser 2013a, 159f.; Fraser 2013b, 210).

 

Von der Bürgerrechtsbewegung zu Identitätspolitiken und -theorien

 

Judith Butlers Queer Theory, die Konzepte von LGBTIQ-Rechten und Intersektionalität, die Erweiterung der Pride-Flagge uvm. sind genauso wenig historisch zufällig wie die simultane Entstehung der pink economy und die Verwandlung des CSD in ein kommerzielles Event. So schreibt Tove Soiland, dass durch die Cultural Studies und ihr Verständnis „von gender eine ganz bestimmte Konzeptionalisierung von Geschlecht hegemonial geworden [ist], die das Geschlechterverhältnis vorrangig unter dem Aspekt des Zwangs zur Zweigeschlechtlichkeit und damit als eine Frage von Normen, von normativen Identitätszuschreibungen und den damit einhergehenden Ein- und Ausschließungen thematisiert“ (Soiland 2011, 19). Parallel dazu ist der Staat „von einem Produzenten konservativer Geschlechterideologien […] zum Propagandeur fortschrittlicher Geschlechterarrangements geworden“ (ebd.). Das zeigt sich anhand der erreichten Rechte von Homo- und Bisexuellen und bspw. Debatten um das Transsexuellengesetz (TSG) in Deutschland, von Gleichstellungsbeauftragten, diversity coaches, gesetzlichen Frauenquoten etc.

Soiland bezeichnet dies alles als „die Situation, dass zeitgleich mit einem […] Paradigmenwechsel in den ideologischen Staatsapparaten eine sich als radikal verstehende feministische Kritik auftaucht, deren Vorstellung von Radikalität sich in eigentümlicher Weise mit diesem Paradigmenwechsel paart“ (ebd. 19f.) und „gender genau zu dem Zeitpunkt hegemonial wird, wo eben diese Normen gesamtgesellschaftlich gerade massiv an Bedeutung verlieren“ (ebd. 20).

 

Daher auch die Queer Theory, laut welcher Geschlecht als Effekt von Bedeutungszuschreibungen performativ und diskursiv hergestellt wird: Butler zufolge wären diese geschlechtskonstituierenden Akte und Bedeutungszuschreibungen von der Macht der „heterosexuellen Matrix“ und deren Materialisierung in der nur vermeintlich natürlichen Zweigeschlechtlichkeit beeinflusst. Daher nimmt Soiland zufolge die Dekonstruktion gegenüber Fragen der Geschlechterhierarchie, wie sie in Theorien zu Patriarchat und Androzentrismus besprochen werden, Priorität ein. Die Pluralisierung von Identitäten wird bejaht, als subversiv erachtet und gefordert, obwohl den Neoliberalismus gerade ein hoher Grad an selbstoptimierender Flexibilisierung sowie eine Verlagerung von „strukturellen, zeit- und allgemeinökonomischen Zwängen“ (ebd. 25) und deren Lösung von der Gesellschaft und dem Staat weg auf das Individuum auszeichnet. Es wird im Sinne einer vermeintlichen Radikalität gefordert, was im Westen schon längst real der Fall ist: Rechte auf Andersartigkeit und freie Entfaltung – ohne dabei nach den „materiellen Bedingungen der Verwirklichung dieser Andersheit“ zu fragen oder den Kapitalismus zu tangieren (ebd. 27)

 

Unter diesem Zeichen stehen auch der LGTBIQ-Begriff und das Konzept der Intersektionalität, das sich auf CSDs in Fahnen ausdrückt, die nicht mehr nur den Regenbogen, sondern andere Farben enthalten, um Transpersonen und people of color zu repräsentieren. Beide soziale Gruppen waren zwar stets Teil der Bewegung, jedoch wird heutzutage ihre Differenz überbetont und in eine Reihe gestellt mit anderen „Identitäten“ wie non-binary, asexuell uvm., die wiederum auch eigene Fahnen haben. Die Ausdrucksformen, aber auch die Forderungen auf dem CSD haben sich geändert. Einerseits ob der Ausweitung des Begriffs queer auf alle Beziehungsformen, sexuelle Vorlieben und Geschlechtsidentitäten, die sich vermeintlich jenseits der Heteronormativität befinden. Andererseits hat das Erreichen vieler Rechte für Homo- und Bisexuelle dazu beigetragen. Diese sollen nun im Sinne des LGBTIQ-Begriffs auch für Trans- und Interpersonen, aber auch alle andere gelten – obwohl Geschlecht und Sexualität trotz einiger Verbindungen nicht dasselbe sind und die Lebensrealitäten und Bedürfnisse sich teils grob unterscheiden. So schreiben Tjark Kunstreich und Matthias Achersleben, dass aufgrund des umbrella terms LGBTIQ und dem virulent werdenden Identitätsdenken das schwule oder lesbische Begehren immer weniger als sexuelle Orientierung denn als Identität ausgelegt wird, die von den Subjekten Zugehörigkeit zu diversen communities oder Geschlechterrollen-konformes Verhalten, also eine bestimmte Performanz, abverlangt. Die queere Ideologie bekommt den Einzelnen somit „nur noch unter dem Aspekt seiner Zugehörigkeit, also seiner Identität mit einer Gruppe, überhaupt in den Blick“ (Kunstreich/Achersleben 2018, 49). Während diese Entwicklungen heutzutage mit der Intersektionalität um race erweitert werden und sich anhand der Identität konstant auf sich selbst und die eigene community bezogen wird, bedeutete in früheren Freiheitsbewegungen „Emanzipation ... individuelle Befreiung von den Zwängen der Identität“ (ebd. 50). Dabei thematisiert die Psychoanalyse Identität kaum, da „Identität […] nie vollständig [ist], nie vollständig sein [kann], sondern Brüchen und Diskontinuitäten [unterliegt], die im Subjekt selbst begründet liegen, in seinem Triebschicksal und den daraus erwachsenen inneren und äußeren Konflikten. Die Suche nach der Identität mit sich selbst, nach einer weitgehenden Integration projizierter und abgespaltener Anteile, ist deswegen eine Lebensaufgabe, die nie vollendet werden kann.“ (ebd. 53)

 

Subversiv ist derartige Identitätspolitik und -theorie also nicht besonders, revolutionär schon gar nicht. So wies selbst Judith Butler ihre Kritiker, aber auch Anhänger in einem 9 Jahre nach Erstveröffentlichung geschriebenen Vorwort zu Gender Trouble in die Schranken, obwohl sie selbst in der Vergangenheit einer nicht-heteronormativen Performanz subversives Potenzial zugeschrieben hatte. Sie schrieb: „... subversive performances always run the risk of becoming deadening clichés through their repetition and, most importantly, through their repetition within commodity culture where ‚subversion‘ carries market value“ (Butler 2002, XXI).

 

Zum heutigen subversiven Potenzial des CSD

 

Während z.B. die deutschen CSD-Veranstalter dubiose, teils aber auch sinnvolle politische Forderungen wie die „Sicherung der Arbeit der Aidshilfen“1 stellen, versucht man sich in anderen Städten gar nicht erst an Politik: Das Motto der diesjährigen Vienna Pride lautet „Together we rise“, gesponsert wird sie u.a. von Nivea und Milka.2 Aufgrund der Störaktion gegen eine Kinderbuchlesung von Drag Queens vor einigen Monaten soll ein Zeichen gegen „Hass und Rechtsextremismus“ gesetzt werden, indem man „die Vielfalt und Sichtbarkeit von LGBTIQ-Menschen“ feiert. Der von Kunstreich und Achersleben kritisierte Kollektivismus wird anhand des Community Village in Wien oder der elfmaligen Verwendung des Begriffs in der Presseaussendung ersichtlich. Explizite Forderungen gegen Homo- und Transphobie findet man hingegen weder hier noch auf der Website der Vienna Pride 2023. In Zürich möchte man unter dem Motto „Lass uns darüber reden“ „zum Dialog innerhalb der Community“3 aufrufen und neumodische Identitäten inkludieren. So heißt es: „Während die einen finden, es sei alles schon gemacht, fängt der Kampf für andere Rechte erst an. Beispiele: Was ist der Community über Anliegen und Bedürfnisse von asexuellen und aromantischen Menschen, oder über Neurodiversität und Beeinträchtigung bekannt?“. Dass die Nichtausübung von Sexualität oder eine Bindungsstörung im Gegensatz zur Auslebung einer gleichgeschlechtlichen Neigung nirgendwo strafrechtlich verboten oder politisch verfolgt war oder ist, scheint dabei irrelevant.

 

Die Zürich Pride wird ein Festival genannt, die London Pride ein Event – politische Forderungen fehlen auch hier. Da die letztere laut Selbstbeschreibung „Diversität und Inklusivität in den Vordergrund stellt“, wird diversity sechsmal in dieser erwähnt und auch „Genderqueere, gender variant- und non-binary-Personen, Asexuelle und Polysexuelle“ zur Bewegung gezählt4, obwohl diese Selbstbezeichnungen jeglicher begrifflichen Grundlage, Verbindung zu Homo-, Bi- oder Transsexualität und politischen Gehalts entbehren. Dieses Jahr wurde sie von LGBT+-Mitgliedern der Gruppe Just Stop Oil blockiert und von ihnen aufgefordert, keine Sponsorengelder von „high-polluting industries“ mehr anzunehmen5. Dieser Fokus auf Sichtbarkeit und Inklusion sorgt auch dafür, dass die Stonewall Riots seit Neuestem verklärt werden, was vor allem schwarze Homosexuelle wie Stormé DeLarverie und Malcolm Michaels Jr. betrifft: Beide waren vor ihrem Tod als Drag Artists tätig – Stormé als „male impersonator“ und Malcolm unter dem Namen Marsha P. Johnson. Doch obwohl sie sich laut persönlichem Umfeld niemals als Transpersonen bezeichnet und widersprüchlich zum Maß ihrer Involvierung in die Stonewall Riots geäußert hatten, werden beide heute immer wieder von queeren Medien und politischen Gruppen – über ihr Engagement für LGBTIQ-Jugendliche hinaus – zu den die Riots initiierenden Helden, aber auch Transpersonen stilisiert.

 

Mit der Anerkennung der Realität hat man es in der Identitätspolitik ohnehin nur bedingt: Jährlich sieht man auf diversen CSDs im Westen Queers For Palestine-Schilder, obwohl in den muslimischen, von Terrororganisationen regierten palästinensischen Gebieten LGBTIQ-Events und Homosexualität im Allgemeinen verboten sind, weshalb homo-, bi- und transsexuelle Palästinenser oft nach Israel fliehen. In Gaza, Istanbul, Riad, Teheran und vielen anderen islamischen Städten wäre eine Pride Parade genauso subversiv wie in Budapest oder Moskau – nämlich immens. In Istanbul konnte in den 2000ern die einzige Gay Pride Parade in einem muslimischen Staat einige Male stattfinden. Seit 2015 versuchen Aktivisten jährlich sie trotz Untersagungen, Festnahmen und Polizeigewalt durchzuführen. Der CSD in Teheran formierte sich stets aus wenigen Aktivisten, die sich heimlich mit Fahnen und Schildern fotografierten, in Saudi-Arabien verbot die Regierung 2021 während des Pride Month gar Spielzeug in Regenbogenfarben. Dass die Staaten, die am repressivsten gegen Homosexuelle, Transpersonen oder Frauen vorgehen und sie ob ihrer Differenz mit Haft oder Tod bestrafen, meist islamisch sind, wird gerne ausgeklammert.

 

Doch auch in den seltenen Fällen, in denen sich auf politischer Ebene kritisch gegenüber islamischen Staaten geäußert wird, wie es – wenn auch nur zögerlich und viel zu spät – bei der Fußball-WM in Qatar oder der Revolution im Iran geschah, bleibt es stets bei einer ähnlichen Symbolpolitik, wie z.B. bei Regenbogenbinden der deutschen Nationalmannschaft oder verurteilenden Worten, die außenpolitisch und ökonomisch keine Konsequenzen nach sich ziehen. Dies teils von jenen Politikern, die jährlich auf dem CSD herumspringen, als wäre Wahlkampf. Da verwundert es auch nicht, dass das Kapital sich nur dann symbolpolitisch geriert, wenn es Gratismut kostet: Während Unternehmen wie Siemens, Puma und BMW in Europa allerorts ihre Firmenlogos während des Pride Month in den Regenbogen tunken, tun sie dies in islamischen Ländern nicht – angeblich ob der Selbstständigkeit der Ländergesellschaften, Rücksichtnahme auf gesetzliche Regelungen und „länderspezifische kulturelle Aspekte“.

 

An der Vorstellung vom revolutionären Potenzials des CSDs im Westen, LGBTIQ-Identitätstheorien und -politiken ist nicht viel dran. Vielmehr sind sie Amalgame von Selbstoptimierung und -flexibilisierung der Subjekte des neuen, neoliberalen Geschlechterregimes, das von kapitalistischen Unternehmen in Form von Symbolpolitik genauso einverleibt werden kann wie von Regierungsvertretern, Aktivisten oder Theoretikern. Aber auch der Unterstellung eines subversiven Potenzials des CSD gilt es den marxistischen Subversionsbegriff entgegenzuhalten. So begreift Johannes Agnoli Subversion laut Stephan Grigat als „Form menschlicher Emanzipation in finsteren, also [...] repressiven und konterrevolutionären Zeiten“ (Grigat 2015, 355). Grigat selbst nennt sie „die Daseinsform der Kritik in nicht-revolutionären Zeiten“ (ebd.). Sie „ist nicht die Revolution selbst, sondern ihre Vorbereitung. [...] Sie ist eine sowohl theoretische als auch praktische Tätigkeit, welche die Ordnung angreift, ohne jedoch wie die Vertreter der konformistischen Revolte eine ‚noch ordentlichere Ordnung‘ einzufordern“ (ebd. 355f.) und somit abzugrenzen von der Reform. Über letztere schreibt Grigat: „Sich gegen einen politischen Reformismus auszusprechen heißt nicht, dagegen zu sein, wenn im Bestehenden Leid minimiert werden kann, [...] sei es hinsichtlich Gewalt, Diskriminierung und Unterdrückung, sondern sich dagegen zu wenden, die gesellschaftlichen Gründe für die [...] Existenz von Gewalt, Diskriminierung und Unterdrückung nicht mehr zu benennen und kritisieren“ (ebd. 356). Subversion wird somit dann „reformistisch oder auch affirmativ“, wenn „sie praktisch versucht, Einfluss auf das falsche Ganze zu gewinnen“ (ebd.).

 

Literatur

  • Boltanski, Luc /Chiapello, Eve (2006): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK

  • Both, Maximilian/Hormess, Ismael (2022): Warum zeigen unsere Konzerne keine Flagge im Nahen Osten, in: Bild.de, 12.06.2022. https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/doppelmoral-im-pride-month-warum-zeigen-konzerne-keine-regenbogenflagge-im-nahen-80287832.bild.html (letzer Zugriff: 27.07.2023).

  • Burkart, Günter (2015): Boltanski/Chiapello. Ein feministischer Geist im neuen Kapitalismus, in: Kahlert, Heike/Weinbach, Christine (Hg.): Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog, 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 153 – 175

  • Butler, Judith (2002): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London: Routledge

  • Fraser, Nancy (2013a): Feminist Politics in the Age of Recognition. A Two-Dimensional Approach to Gender Justice, in: Fortunes of Feminism. From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis. New York: Verso Books. 159 – 173

  • Fraser, Nancy (2013b): Feminism, Capitalism and the Cunning of History. In: Fortunes of Feminism. From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis. New York: Verso Books. 209 – 226

  • Grigat, Stephan (2015): Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg: ca ira

  • Kunstreich, Tjark/Achersleben, Matthias (2018): In den Regenbogenfarben der Unterdrückung, in: Bahamas, Nr. 80, Herbst/Winter 2018, S. 48 – 53.

  • Lies, J. (o.J.): Diversity Management, in: Gabler Wirtschaftslexikon. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/diversity-management-53993 (letzter Zugriff: 26.07.2023).

  • Möller, Mario (2021): Team Regenbogen gegen Ungarn, in: Bahamas, Nr. 88, Herbst 2021, S. 20 - 24

  • Reckwitz, Andreas (2018): Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.

  • Soiland, Tove (2011): Zum problematischen Cultural Turn in der Geschlechterforschung, in: Casale, Rita/Forster, Edgar (Hg.): Ungleiche Geschlechtergleichheit. Geschlechterpolitik und Theorien des Humankapitals. Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich, S. 17-32

 

[1] CSD Deutschland (o.J.): Unsere Ziele. https://csd-deutschland.de/unsere-ziele/ (letzter Zugriff: 27.07.2023).

[2] OTS (2023): Vienna Pride 2023. Stadt Wien und HOSI Wien holen Pride ins Rathaus. https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20230502_OTS0031/vienna-pride-2023-stadt-wien-und-hosi-wien-holen-pride-ins-rathaus , 02.05.2023 (letzter Zugriff: 27.07.2023).

[3] Zürich Pride Festival (2023): Zürich Pride Motto 2023. „Lass uns darüber reden“, 15.02.2023. https://zurichpridefestival.ch/wp-content/uploads/2023/02/230215_MM_ZHPF_Motto_Lass_uns_darueber_reden.pdf, S.1 (letzter Zugriff: 27.07.2023).

[4] Pride In London (o.J.): About Us. https://prideinlondon.org/about-us (letzter Zugriff: 27.07.2023).

[5] Euronews/AFP (2023): Just Stop Oil protesters disrupt London Pride over ‘high-polluting’ sponsors, 02.07.2023. https://www.euronews.com/2023/07/02/just-stop-oil-protesters-disrupt-london-pride-over-high-polluting-sponsors (letzter Zugriff: 27.07.2023).

Ein Amazon-Truck auf der WorldPride Parade in New York 2019, der anlässlich des 50. Jahrestages der Stonewall Riots dekoriert wurde. (Foto: Breawycker (CC BY-SA 4.0))