Im Schatten der Brücke

Anlässlich einer Ausstellung zur Linzer Nibelungenbrücke rekapituliert Paul Schuberth die Geschichte dieses einstmaligen NS-Symbols und thematisiert fragwürdige Erinnerungspolitiken.

Was unterscheidet die deutsche Erinnerungspolitik in Bezug auf das „dunkelste Kapitel“ der eigenen Geschichte von der österreichischen? Der Mythos von Deutschland als „Aufarbeitungsweltmeister“ rührt von einer sehr spezifischen Konstellation her: Zerstreut wurden die Sorgen gegenüber einem erneut großen, starken Deutschland nicht primär durch angemessene Reparationszahlungen, sei es an überfallene und verwüstete Staaten oder einzelne Opfergruppen, sondern durch eine Umleitung der Aufarbeitung in kulturelle Bahnen. Was Rechtsextreme und mitunter Konservative als einen das Volk erdrückenden Schuldkult geißeln, war als Erinnerungskultur eine Erleichterung für die Bevölkerung: Erinnerungskultur auch als moralische Entschädigung für Täter und Nachkommen. Es gelang also, die eigene Vergangenheitsbewältigung in ein neues Nationalgefühl einzubetten, ohne den Stolz auf die Vergangenheit ganz auszulöschen. Hinter der Fassade der Betroffenheit von Nichtbetroffenen jedoch wurde viel dafür getan, Entschädigungszahlungen für anerkannte Opfer zu verzögern, sowie andere Opfergruppen sehr lange gar nicht anzuerkennen; oder sie in den deutschen Nachfolgestaaten weiteren Repressionen auszusetzen, wie etwa Roma und Sinti, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“, Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen, oder sie gesellschaftlich zu ächten, wie zum Beispiel Deserteure. Der deutsche Arzt und Historiker Christian Pross spricht vom andauernden „Kleinkrieg gegen die Opfer“. Erst am 29. Jänner dieses Jahres verabschiedete der Deutsche Bundestag einen Antrag, der feststellt, dass die Opfer der NS-‘Euthanasie’ und die Opfer von Zwangssterilisation als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen sind.

 

In Österreich herrschte dagegen eindimensionaler Revisionismus vor. Beachtlich aber, dass man hier den Spagat schaffte, sich einerseits als erstes Opfer Hitlers darzustellen, andererseits dabei aber genau die Menschen nicht in Ehren zu halten, die als Kronzeugen für diese Darstellung taugen könnten – weil sie etwa, wie die kommunistischen Widerstandskämpfer*innen, tatsächlich für ein freies und unabhängiges Österreich gekämpft hatten. Die österreichische Erinnerungspolitik entsprach insofern diesem Revisionismus, als sie als eine offizielle, konsensuale schlicht nicht existierte. Daher hatten Erinnerungsinitiativen ‚von unten‘ bis in die 2000er-Jahre etwas sehr Subversives. Zum Beispiel sei daran erinnert, gegen welche politischen Widerstände das Mauthausen Komitee Steyr noch in den 1990er-Jahren zu kämpfen hatte (siehe Versorgerin #124). Die Stätten der Vernichtung, des Terrors und der Zwangsarbeit wurden dabei je nach weiterer Benutzbarkeit für andere Zwecke entweder beseitigt – wie die Baracke des Konzentrationslagers Münichholz in Steyr 1993 –, oder als brauchbare Bauten in den normalen postnazistischen Betrieb übernommen, ohne über die jeweilige Vorgeschichte ausgiebig zu informieren. Ein berühmtes Exempel dafür ist der Loibltunnel, den Häftlinge des KZ Loibl hatten graben müssen. Während auf jugoslawischer Seite schnell eine Erinnerungsstätte Platz fand, wurde auf der österreichischen eine harmlose Erinnerungstafel aufgestellt, für den Platz vor dem Tunnel allerdings ein Aufenthaltsverbot ausgesprochen. Weiters sind die Stauwerke der Enns zu nennen, zum Beispiel Ternberg oder Staning zwischen Dietach und Haidershofen, die unter Einsatz von Zwangsarbeit erbaut wurden.

 

Erst jetzt, dank einer wunderbaren Ausstellung in der Linzer Kunstuniversität, drängt auch die imposante Nibelungenbrücke als ein Denkmal von – noch heute nachwirkend nutzbringender – Zwangsarbeit und deren späteren Verheimlichung ins Bewusstsein der Linzer Bevölkerung. Die Nibelungenbrücke, die den heutigen Hinsenkampplatz in Urfahr (benannt nach dem deutschnationalen Politiker Heinrich Hinsenkamp) und den heutigen Haupt- (aber ehemaligen Adolf-Hitler-)Platz miteinander verbindet, könnte man als das heimliche Zentrum von Linz begreifen. Nicht nur schließt die Brücke die Kernstadt von Linz mit dem dörflich geprägten Alt-Urfahr zusammen, sondern markiert auch die Verbindung zwischen zwei geologischen Regionen Oberösterreichs: Böhmische Masse und Alpenvorland. Unter ihr hindurch müssen sich Frachtschiffe auf ihrem Weg von Regensburg Richtung Schwarzes Meer zwängen, was der Nibelungenbrücke einen ausgeprägteren internationalen Flair verleiht, als hier manchen lieb sein kann. Von der Mitte der Brücke aus hat man nicht nur Blick auf den Urfahrstrand, auf die beiden Hausberge der Linzer*innen, Pöstlingberg und Lichtenberg, auf die Neue Eisenbahnbrücke – deren Vorgängerin ebenfalls geschichtsträchtig ist, war sie doch Schauplatz des Februaraufstandes und dessen Niederschlagung im Jahre 1934 –, sondern auch auf viele Orte des nationalsozialistischen Terrors: Südwestlich liegt der Freinberg, in dessen Massiv der Stollen des ehemaligen KZ Linz II eingegraben ist, im Nordwesten liegen die Urfahrwände mit dem von u. a. KZ-Gefangenen errichteten, weit verzweigten Luftschutzstollen, Richtung Südosten erkennt man den Rauch der Schlote der ehemaligen Hermann-Göring-Werke, wo sich auch das Lager KZ Linz I befand. Nicht so leicht fällt es, sich einzugestehen, dass auch die Nibelungenbrücke selbst zu diesen Orten zählt.

 

Über eine Brücke“ hieß die Ausstellung, die von Herbst 2024 bis Anfang März 2025 in der Linzer Kunstuniversität zu besuchen war. Die Vorarbeit der Historikerin Birgit Kirchmayr von der JKU war die Grundlage, auf der Studierende der Kunstuni unter Anleitung von Angela Koch und Wiltrud Hackl die Ausstellung konzipierten. Das Ergebnis ist eine äußerst gelungene, künstlerische Aufarbeitung der Geschichte der Nibelungenbrücke. Was ist nun genau der geschichtliche Hintergrund? Die Nibelungenbrücke, erbaut zwischen 1938 und 1940, war nicht nur als bloßer Funktions-, sondern als Repräsentationsbau geplant. Linz sollte ja als „Führerstadt“, als nationalsozialistische Musterstadt, auf lange Sicht ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Deutschen Reiches werden; während der große Stahl- und Rüstungsbetrieb (heute Voestalpine) tatsächlich errichtet wurde, verblieben ein Großteil der monumentalen Bauprojekte in der Gegend der beiden Donauufer – Prachtstraßen u. a. mit Theatern und Galerien – weitgehend in der Planungsphase. Für den Blumauerplatz in Bahnhofsnähe war 1938 ein großes Opernhaus vorgesehen. Dass 2013 genau dort das neue Linzer Musiktheater eröffnet wurde, lässt sich mit stadtplanerischen Notwendigkeiten erklären. Dass für die erste Saison gleich der ganze „Ring des Nibelungen“ programmiert wurde, wo doch bekannt ist, welch großen Einfluss der Besuch der Wagner-Opern in Linz auf den Jugendlichen Hitler hatte, fällt, wohlgesonnen formuliert, in den Bereich der Rätselhaftigkeit. Die Errichtung der geplanten Linzer Galerien erforderte eine eigene Kunstraubaktion, für die die informelle Organisation „Sonderauftrag Linz“ eingesetzt wurde. Ihr gehörten unter anderem die Kunsthistoriker Robert Oertel, später Direktor der Gemäldegalerie in West-Berlin, und Erhard Göpel an, der sich allerdings 1942 und in Folgejahren für den diffamierten Maler Max Beckmann (1884–1950) einsetzte. Von all den geplanten Prunkbauten wurden jedoch nur die Nibelungenbrücke und die dazugehörigen Brückenkopfgebäude errichtet. Die Bedeutung dieser neuen Brücke für das NS-Regime zeigt sich auch darin, dass der junge Hitler schon 1925 erste Skizzen für eine neue Brücke entworfen hatte. Nach dem Anschluss wurde die Brücke nach Plänen von Karl Schaechterle und Friedrich Tamms (später Baudezernent in Düsseldorf) errichtet. Wie aber kam es zum Namen der Brücke? Der mittelalterliche Nibelungenmythos war im Nationalsozialismus ein beliebtes ideologisches Werkzeug, um „deutsche Tugenden“ wie Treue – die berühmte „Nibelungentreue“ – und Opferbereitschaft zu plausibilisieren. Die Nibelungenbrücke sollte als ein Symbol der „Wiedervereinigung“ Deutschlands und Österreichs dienen, „im Sinne des Nibelungenzugs, der von Worms dann entlang der Donau ins ungarische Hunnenland führte“, erklärt Prof. Birgit Kirchmayr in einem Interview auf der Website der JKU. Pläne hatten auch vorgesehen, riesige Skulpturen mit Figuren aus der Nibelungensage bei den Brückenköpfen zu platzieren – Siegfried und Kriemhild auf der Linzer Seite, Brunhild und Gunter auf der Urfahraner Seite.

 

Als Baumaterial diente unter anderem Granit aus den Steinbrüchen der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen. Gab es in Linz insgesamt 77 Zwangsarbeiter*innenlager, und wurden in der Industrie der oberösterreichischen Hauptstadt zehntausende Zwangsarbeiter*innen eingesetzt, so schufteten per Zwang eingesetzte Arbeiter*innen auch beim Bau der Nibelungenbrücke und der Brückenkopfgebäude. Zudem mussten insgesamt 274 Wohnungen den neuen Brückenkopfgebäuden weichen. Einer zwangsumgesiedelten Linzerin wurde eine Wohnung in der Landstraße, die man einer jüdischen Familie enteignet hatte, in der Innenstadt angeboten. In der Ausstellung erfährt man mehr über das Schicksal der Familie Treichlinger – die überlebenden Söhne der Familie kämpften nach dem Krieg erfolgreich für eine Rückstellung der Wohnung. Nicht abgerissen wurde das „Pionierdenkmal“ (1936) des damals illegalen NSDAP-Mitglieds Wilhelm Frass, das ursprünglich neben der alten Donaubrücke aufgestellt worden war. Bis heute steht es, seit dem Bau der neuen Brücke um etwa hundert Meter donauabwärts versetzt, ohne entsprechende Kennzeichnung und unbehelligt an der Donaulände.

 

Doch auch die Nibelungenbrücke hat ihre Gedenktafel: Sie erinnert daran, dass mit dem Überschreiten der Brücke für Sudetendeutsche die Schrecken der Vertreibung aus der Tschechoslowakei ein Ende genommen hatten. Für die Vorgeschichte dieser Vertreibung – als ein Hinweis: 68 % der Sudetendeutschen hatten bei freien Wahlen in der Tschechoslowakei für die nationalsozialistische Schwesterpartei SdP gestimmt – ist auf der Tafel kein Platz. Sowie offenbar auf der ganzen Brücke kein Platz dafür zu sein scheint, an die Zwangsarbeiter*innen und die ideologische Funktion der Brücke zu erinnern. Vielleicht ändert sich das bald nach dem Erfolg der Ausstellung? Doch machen wir uns ehrlich. Wie lückenhaft und verquer die österreichischen Erinnerungspolitiken auch waren und sind – in wenigen Jahrzehnten wird uns eine Zeit, in der manche die Muße hatten, ernsthaft und öffentlich an vergangene Massenverbrechen zu erinnern, als paradiesisch erscheinen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass nach zu befürchtenden neuen Massenverbrechen die Menschen und Gesellschaften in Europa die Kapazitäten besitzen werden, für Ruhe, Mahnung, Warnung und Verbesserung zu plädieren. Europa befindet sich im Zustand permanenter Faschisierung. Wer zweifelt noch daran, dass die unfassbare Gewalt an den externalisierten Außengrenzen der EU im Mittelmeer, in Nordafrika, in der Türkei ein „geringer“ Vorschein auf das ist, was in zehn, zwanzig, dreißig Jahren mit Millionen Klimaflüchtlingen an den Grenzen und innerhalb der Grenzen passieren wird? Utopischer zu denken, geht gar nicht mehr, aber: Die Nibelungenbrücke könnte vom nationalsozialistischen Symbol zu einem Symbol hoffnungsvoller Warnung für die Zukunft werden: Was muss politisch und ökonomisch getan werden, damit vor Kälte und Extremwetter Schutz suchende Flüchtlinge aus Norwegen – sollte sich der Golfstrom so stark wie befürchtet abschwächen – und vor Hitze und Trockenheit fliehende Menschen aus dem Süden, die sich dereinst auf der Nibelungenbrücke friedlich begegnen könnten, nicht mit roher Gewalt seitens einheimischer Sicherheitskräfte rechnen müssen?

 

Über eine Brücke
gehen / fahren / schreiben / forschen / reden / streiten


Die besprochene Ausstellung lief vom 20. November 2024 bis 3. März 2025 an der Kunstuniversität Linz.

Ein Projekt von Birgit Kirchmayr vom Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Kepler Universität, Angela Koch und Wiltrud Hackl vom Institut für Medien und Co.Lab für Erinnerungsarbeit | ästhetisch-politische Praktiken.

Zahlreiche beteiligte Studierende, mehrere Berichte, mehr Info auf: www.kunstuni-linz.at/aktuelles/termine-news/newsdetail/ueber-eine-bruecke-gehen-fahren-schreiben-forschen-reden-streiten

»Pionierdenkmal« von Wilhelm Frass und Alexander Popp (Foto: TanjaB)