Warten auf die Rebellion

Sowohl in Österreich als auch in Deutschland lässt die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu Wünschen übrig. Ein vorläufiges Fazit von Frédéric Valin.

Im Februar 2025 jährte sich die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) in Deutschland zum sechzehnten Mal; ein Jahrestag, der größtenteils unbemerkt vorüberzog. Es gab kaum Artikel zum Thema, keine Titelseiten, keine öffentliche Debatte. Und das, obwohl sowohl in Österreich als auch in Deutschland im Jahr davor die Prüfberichte veröffentlicht wurden, die Fort- und Rückschritte in der Umsetzung der BRK dokumentierten: Material wäre also massenhaft vorhanden.

Dabei beginnt die Geschichte der Behindertenrechtskonvention ausgesprochen erfolgreich. Nachdem sie 2006 in der UN-Generalversammlung verabschiedet wird, ist sie in der gesamten Geschichte der Vereinten Nationen jene Menschenrechtskonvention, die in kürzester Zeit von der größten Anzahl an Staaten unterzeichnet wird. Gerade Österreich rühmt sich regelmäßig damit, die Konvention als erstes unterzeichnet zu haben:

Das könnte auch als Hinweis auf ihre Unverbindlichkeit gelesen werden, aber das Gegenteil ist der Fall: Die BRK schreibt einen Paradigmen-wechsel in der Behindertenpolitik fest, der nichts weniger sein will als eine Revolution von oben. Sie etabliert ein ganz neues Verständnis von Behinderung: das sogenannte menschenrechtliche Modell.

 

Busblockade durch den Spontanzusammenschluss Berlin 1987 (Foto: Norbert Nischalke | Archiv Behindertenbewegung)

 

Zentral für dieses Modell ist der Begriff der Inklusion, der die Leitidee der Integration ablösen soll. Das Ideengebäude der Integration geht von einer normativen Gesellschaft aus, in die hineinintegriert werden soll; es existiert in diesem Konzept eine Leitkultur des Normalen als gesellschaftliche Hauptströmung, an der sich alle Abweichenden zu orientieren haben. Inklusion hingegen versucht, Norbert Elias’ Idee der »Gesellschaft der Individuen« Rechnung zu tragen: Nicht das Individuum ist verpflichtet, sich möglichst in die gesellschaftliche Normalität einzupassen, sondern Gesellschaft und (als eine ihrer Gestalterinnen) die Politik sind verpflichtet, die freie Entfaltung der bisher als abweichend Stigmatisierten zu gewährleisten. Der Blick verschiebt sich von den allgemeinen Normen auf die persönlichen Kompetenzen.

Praktisch bedeutet dies eine Aufhebung der lebensweltlichen Trennungen: Alles, was öffentlich ist oder teilöffentlich, soll allen zugänglich sein. Das gilt – um einige Beispiele herauszugreifen – für das Schulsystem, das sich auch Kindern mit Hilfebedarf öffnen soll, statt sie in sonderpädagogische Einrichtungen abzuzweigen; das gilt für offenere Wohnformen wie beispielsweise Wohngemeinschaften, die die Heimunterbringungsstruktur ablösen soll. Und es gilt auch für den Arbeitsmarkt, der in vielen Ländern ein Werkstättensystem hervorgebracht hat, in dem Menschen mit Behinderung nominell auf die Integration auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen.

Nominell, weil das Werkstättensystem diesem Anspruch nicht nur nicht gerecht wird, sondern ihn auch unterläuft. In Deutschland ist das Werkstättensystem ein Wirtschaftszweig, der jährlich 8 Milliarden Euro umsetzt und an die 320.000 Menschen beschäftigt. Diese Menschen gelten als »nicht erwerbsfähig« und haben entsprechend auch nicht die Rechte von Arbeitnehmer*innen: Das durchschnittliche Entgelt beträgt um die 1,45 Euro die Stunde. Dem Integrationsanspruch, dem die Werkstätten verpflichtet sind, kommen sie nicht nach: Seit Jahrzehnten liegt die Quote jener, die aus diesem System wieder in den ersten Arbeitsmarkt kommen, bei unter einem Prozent. Wer einmal in dieses System gerät, kommt kaum noch wieder heraus. Und der Bereich wächst. Inzwischen werden immer mehr Menschen mit seelischen Behinderungen in das System eingespeist; nicht selten Menschen, die der erste Arbeitsmarkt in das Burnout getrieben hat.

Bild: Archiv Behindertenbewegung

 

In Österreich ist die Lage noch etwas schlimmer, denn dort zahlen die ungefähr 28.000 Werkstättenbeschäftigten weder in die Kranken- und Unfallversicherung noch in die Rentenkasse ein und erwerben entsprechend keine Ansprüche. Das Lohnniveau liegt zwischen 35 und 140 Euro im Monat. Die Bundesregierung kündigte im Dezember 2023 an, das System umzustellen, so dass alle Werkstättenbeschäftigten nach Kollektivvertrag entlohnt werden sollen. Allerdings entstünden dadurch den Ländern Mehrkosten in Höhe von 400 Millionen Euro, die sie aktuell nicht zu zahlen bereit sind. Da spiegelt sich ein Problem, das in fast allen Bereichen der Inklusion in Österreich existiert: Die Länder fühlen sich nicht zuständig. Inklusion ist in ihren Augen Sache des Bundes, vor allem, wenn sie Geld kostet. Oder, um es mit den Worten des Prüfberichtes zu sagen: »Der Ausschuss stellt mit Besorgnis fest, dass die im Übereinkommen verankerten Grundsätze und Rechte sowie die Verpflichtungen der Vertragsstaaten nach dem Übereinkommen nicht ausreichend bekannt zu sein scheinen, insbesondere bei den Landesregierungen.« Das ist 15 Jahre nach der Ratifizierung nett gesagt: Der Schluss, dass den Landesregierungen die Menschenrechte weniger wichtig sind als ihr Budget, liegt mindestens genauso nahe.

Österreich liefert auch ein besonders markantes Beispiel dafür, warum es sinnlos ist, das Thema Inklusion in Fachgremien auszulagern: Denn auch für Menschen mit Behinderung, die am ersten Arbeitsmarkt tätig waren, hat sich die Lage deutlich verschärft. 2020 waren 82.000 Menschen mit sogenannten »gesundheitsbedingten Vermittlungsschwierigkeiten« arbeitssuchend gemeldet, das waren fast 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Was genau der Hintergrund dieses Anstiegs ist, ist nicht sicher zu bestimmen: Die genauen Zahlen werden nicht erhoben. Was man nicht sieht, kann auch nicht skandalisiert werden.

Der ganze Bericht über die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen konstatiert in fast allen Bereichen Stagnation oder sogar Rückschritte; besonders gravierend fallen diese Rückschritte im Schulsystem aus. Mit dem Bildungsreformgesetz von 2017 wurde die Segregation von behinderten und nichtbehinderten Kindern weiter festgeschrieben, auch und sogar im Kindergartenbereich. Absurderweise wurde das Gesetz damals als Türöffner für mehr und bessere Inklusion angepriesen.

Sowohl für Deutschland als auch für Österreich stellen die Prüfberichte gravierende Mängel nicht nur in der Umsetzung einzelner Maßnahmen fest, sondern in der grundsätzlichen Haltung überhaupt. Österreich habe, heißt es, »ein problematisches Verständnis internationaler menschenrechtlicher Verpflichtungen. Internationale Menschenrechtsverpflichtungen werden tendenziell eher als ‚Kann-Bestimmungen‘ oder gar als Luxus wahrgenommen.« Es dominiere nach wie vor der Wohltätigkeitsgedanke, der Menschen mit Behinderung nicht als Gleiche ansieht, sondern als Objekte paternalistischer Fürsorge und christlicher Nächstenliebe behandelt.

Dass sich an dieser gesellschaftlichen Haltung etwas grundlegend ändert, ist angesichts der wirtschaftlichen Krise und des Rechtsrucks in ganz Europa unwahrscheinlich. Die Pandemie hat gezeigt, wie schnell in einer akuten Krisensituation die Unterscheidung zwischen »normal« und »behindert« gezogen wird und auch welche fatalen Auswirkungen das hat. Es wurde in sehr kurzer Zeit eine neue Kategorie der Behinderung etabliert, die sogenannten Risikogruppen. Auch sie waren Opfer einer wohltätig ausgerichteten Politik, die nominell zumindest für eine kurze Zeit ihren Schutz zu gewährleisten suchte. Sobald aber die Impfung verfügbar war, sollte die präpandemische Normalität wieder etabliert werden, auch wenn das die existenzielle Gefährdung jener sogenannten Risikogruppen beinhaltete. Die wurden dann weitestgehend sich selbst überlassen.

Beim Versuch, ein fortschrittliches, humanistisches Verständnis von Behinderung zu etablieren, droht die Behindertenrechtskonvention gerade am passiven Widerstand der mittleren und unteren politischen Ebenen, an der Mutlosigkeit der Bundesebene und der Gleichgültigkeit in der Gesellschaft insgesamt zu scheitern. Zynisch gesagt scheint es, als wäre die Behindertenrechtskonvention nur ein Stück Papier, das man halt unterschrieben hat, damit mal Ruhe ist.

Andererseits formiert sich seit einigen Jahren auch vermehrt Widerstand gegen den Stillstand. Weil sich beispielsweise die Akademie der Bildenden Künste in Wien weigert, ihren Haupteingang barrierefrei zu gestalten, zog sich 2022 ihr Student Philipp Muerling vier Mal die Woche am Treppengeländer empor. In Folge hat die Universität einen Wettbewerb zum barrierefreien Umbau ausgeschrieben – die Einreichungen wurden Mitte Januar 2025 präsentiert.

Die Aktion erinnert an die äußerst erfolgreichen Anfänge der Behindertenrechtsbewegung: Die sogenannte Krüppelbewegung nahm ihren Anfang, als 1974 eine Gruppe Aktivist*innen um Gusti Steiner die Frankfurter Straßenbahn blockierte, weil jene absolut nicht rollstuhlgerecht war. Die Krüppelbewegung war sehr erfolgreich darin, ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass behinderte Menschen kein Abfall sind. Sie fällt in eine Zeit, in der in Europa Mütter für Kindsmorde freigesprochen wurden, weil ihr getötetes Baby behindert war, und in der einer Frau eine Entschädigung zugesprochen wurde, weil sie im Urlaub im gleichen Hotel wie eine Gruppe behinderter Menschen untergebracht war. Die Demonstration, die diesem Frankfurter Skandalurteil 1980 folgte, ist bis heute die größte im deutschsprachigen Raum.

Die Krüppelbewegung hat viele grundlegende Rechte für Behinderte miterfochten und war eine der Wegbereiterinnen der BRK. Obwohl die BRK nur unzureichend umgesetzt wird, ist sie nicht wirkungslos geblieben. Aktuell wurden und werden auch in Österreich ein halbes dutzend Gesetzesinitiativen umgesetzt, die den Gewaltschutz, die Gleichstellung und die Barrierefreiheit verbessern sollen.

Die BRK hat auch Aktivist*innen und zivilgesellschaftlichen Initiativen den Rücken gestärkt, die für die Menschenrechte streiten. Nennenswerte Fortschritte sind in Österreich vor allem das 2018 eingeführte Erwachsenenschutzgesetz, eine Anpassung des Gleichstellungsgesetzes, die Verabschiedung des Inklusionspakets 2017 und Verbesserungen in der Barrierefreiheit. Die praktische Umsetzung ist ein Problem, weil beispielsweise die Justiz alles andere als barrierefrei ist. Aber theoretisch gibt es so etwas wie kleine Schritte nach vorne. Die aber freilich eingeholt werden von einer rauer werdenden Wirklichkeit. Nichtsdestotrotz wissen Behinderte inzwischen auch in Österreich, dass sie mehr wert sind als Opfer einer Barmherzigkeit; der Revolution von oben folgt die Rebellion von unten. Das ist ein Grund zu feiern, und zwar so lange zu feiern, bis diese Rebellion erfolgreich gewesen ist.