Poet und Partisan

Richard Wall zur Aktualität von René Char, mit einer Empfehlung von »Feuillets d‘Hypnos / Aufzeichnungen aus dem Maquis 1943 – 1944«. 

Die Renaissance des Faschismus in Europa lässt mich den Kopf schütteln über den Hang zur Selbstbeschädigung eines Teiles der Bevölkerung, die dieser Ideologie in freien Wahlen (!) zum Aufstieg verhilft. Es ist, als ob diese Leute noch nie von der Tatsche gehört hätten, dass Faschismus geistige Knebelung, Missachtung der Menschenrechte und letztlich Krieg bedeutet. Der Verzweiflung nahe möchte ich an den 1907 geborenen René Char erinnern; er gehörte bis 1938 zum Kreis der Surrealisten um André Breton und Paul Eluard und ging nach der Kapitulation Frankreichs gegen die mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regierung auf Konfrontation. Als auch Südfrankreich von den Nazis besetzt wurde, setzte er sich mit einer Gruppe Maquisards klug wie tatkräftig für die terrorisierte Bevölkerung ein und half mit, die Invasion der Alliierten von Algerien aus vorzubereiten. Was die Zeit danach betrifft, wusste er: »Die Implantation« des Dämonischen kann nicht ungeschehen gemacht werden. Was einmal in die Welt gesetzt wurde, bleibt. Char hat sowohl im Sprachgebrauch wie im politischen und kulturpolitischen Handeln radikale Positionen bezogen. Auf meine Art aktualisiert habe ich meinen Zugang zu ihm durch Besuch seiner provenzalischen Geburtsstadt L’Isle-sur-la-Sorgue und durch Wanderungen in der Vaucluse, die seine Dichtung geprägt hat. 

Das literarische Vermächtnis der Jahre im Maquis 

Es mag vor etwa 20 Jahren gewesen sein, als ich auf den hierzulande kaum bekannten Namen René Char aufmerksam wurde und ich mir einige seiner Bücher kaufte. Zu den bedeutendsten zählt gewiss Hypnos / Feuillets d’Hypnos / Aufzeichnungen aus dem Maquis 1943 – 1944, erstmals 1946 von Albert Camus herausgegeben. Char war ein Poet, der wie kaum ein anderer französischer Schriftsteller sein Leben riskierte. Er kämpfte weniger einem abstrakten »Vaterland« zuliebe – ihm war stets die konkrete Region der Vaucluse wichtiger – als für die Freiheit und eines seiner Pflichten bewussten Humanismus, wie er zu Beginn seiner Aufzeichnungen festhält:

»[…] Ihre Niederschrift erfolgte in der Angespanntheit, im Zorn, unter Ängsten, im Eifer, im Ekel, inmitten von Listen, heimlicher Sammlung, Zukunftsillusionen, Freundschaft, Liebe. Womit gesagt ist, in welchem Maße die Ereignisse mitsprechen. […] Das hier Aufgezeichnete berichtet vom Widerstand eines seiner Pflichten bewussten, in bezug auf die ihm innewohnenden Kräfte Zurückhaltung übenden Humanismus, eines Humanismus, der das Unbetretbare als Spielraum freihalten möchte für die Phantasie seiner Sonnen und der entschlossen ist, den Preis dafür zu zahlen.«

In meiner Taschenbuchausgabe von HYPNOS ist auf S. 6 eine Postkarte reproduziert: Ein antiker Hypnos-Kopf, handschriftlich von Char mit diesen Worten eingerahmt: »Hypnos ergriff den Winter und kleidete ihn in Granit. Der Winter wurde zu Schlaf, Hypnos zu Feuer. Das Weitere ist Sache der Menschen.« Mit dieser Metamorphose, die mit dem letzten Satz der Menschen Pflicht zur Tat ins Spiel bringt, werden die 237 Aufzeichnungen, von keinem Geringeren als Paul Celan ins Deutsche übertragen, eingeleitet.

»Das Weitere ist Sache der Menschen.« Dieser schlichte Satz, diese Aufforderung, bestimmt das Leben von »Hypnos« und das seiner Gefährten (für die Section Atterisage-Parachutage angeworben, die die Landung der Alliierten vorbereiten soll, wurde dann aus »Hypnos« der vom makedonischen Heerführer abgeleiteter Deckname Capitaine Alexandre). 

So bekommt Léon Saingermain, alias Pierre Zyngerman (auch seine Gefährten agieren unter Decknamen) von seinem Vorgesetzten Anweisungen für die Sicherung der »Homodépôts«; befestigte Bodenstationen, in denen die Maquisards das Landen und Starten der alliierten Flugzeuge organisieren. Diese »Regeln« evozieren beim heutigen Leser eine Vorstellung vom Leben im Untergrund. Mit wenigen Abstrichen sind sie auch als Maxime für ein ziviles Leben vorstellbar. Mit »L.S.« ist Léon Saingermain gemeint: 

»LS: Dank für Homodépôt Durance 12. Tritt heute Nacht in Funktion. Darauf achten, dass die dem Gelände zugeteilten jungen Leute sich nicht allzuoft in den Straßen von Duranceville sehen lassen. Mädchengesellschaft und Cafés gefährlich, wenn länger als eine Minute. Dennoch die Zügel nicht zu straff anziehen. Kein Einander-Bespitzeln in der Gruppe. Keine Verbindungen mit nicht zu unserem Netz Gehörenden. Großsprecherei stoppen. Bei Überprüfung von Nachrichten stets zwei Quellen. Im Auge behalten, dass in den meisten Fällen fünfzig Prozent Schwärmerei. Die Leute darin unterweisen, die Augen offen zu haben, genau zu berichten, die Arithmetik der Situation zu erfassen. Umlaufenden Gerüchte erst sammeln, dann synthetisieren. Treffpunkt und Briefkasten beim >Weizenfreund<. Möglichkeit Aktion Waffen-SS gegen Ausländerlager 
in Les Mées, mit Übergreifen auf Juden und Résistance. Spanische Republikaner äußerst gefährdet. Müssen unverzüglich gewarnt werden Eigene Teilnahme an Kampfhandlungen möglichst vermeiden. Homodépôt sakrosankt. Bei Alarm sich zerstreuen. Außer um Kameraden zu befreien, Feind niemals Vorhandensein merken lassen. Verdächtige abfangen. Ich vertraue ihrem Urteil. Lager wird niemals gezeigt. Kein Lager vorhanden, nur Kohlenmeiler, die nicht rauchen. Keine ausgehängt Wäsche, wenn Flugzeuge; alle Mann unter Bäumen oder im Gebüsch. Außer dem >Weizenfreund< und dem >Schwimmer< wird niemand in meinem Auftrag zu Ihnen kommen. Härte und Aufmerksamkeit Ihren Leuten gegenüber. Disziplin, in Freundschaft gebettet. Bei der Arbeit immer ein paar Kilo mehr als jeder von ihnen, doch ohne sich darauf etwas einzubilden. Merklich weniger essen und rauchen als die andern. Keinen bevorzugen. Lügen nur dann dulden, wenn improvisiert oder absichtslos. Keine Zurufe aus der Entfernung. Auf saubere Körper und saubere Wäsche achten. Sie sollen lernen, mit leiser Stimme zu singen, keine Melodien zu pfeifen, die einen verfolgen, die Wahrheit so zu sagen, wie sie auf einen zukommt. Nachts am Wegrand entlanggehen. Ihnen die Vorsichtsmaßregeln andeuten, aber ihnen das Verdienst lassen, sie selbst gefunden zu haben. Wetteifern ist ausgezeichnet. Monotonen Gewohnheiten entgegenwirken und solche anregen, die man selber ungern dahinschwinden sähe. Und schließlich: die Menschen lieben, die sie lieben, im selben Augenblick wie sie. Addieren Sie, dividieren Sie nicht. Hier geht alles gut.
Herzlich. HYPNOS.« 

Konkrete Handlungsrichtlinien wie diese (Eintrag 87) wechseln mit lyrischen Notizen oder Reflexionen zur Poesie: »Die Fluglinie des Gedichts. Sie müsste einem jeden sinnlich wahrnehmbar sein.« (98) Zwischendrin dieser Satz: »Es gibt eine Art Menschen, die stets den eigenen Exkrementen voraus sind.« (28) Ein Satz, der verlockt, Namen der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Klasse zu nennen.

Dazwischen eingefügt sind kurze Porträts der Freunde: »Archiduc eröffnet mir, dass er seine innere Wahrheit entdeckte, als er zur Résistance stieß. Vorher war er ein Akteur seines Lebens gewesen, missvergnügt und argwöhnisch. Die Unaufrichtigkeit vergiftete ihn. Eine unfruchtbare Traurigkeit breitete sich über ihn. Jetzt liebt er, gibt er sich aus, ist er beteiligt, geht er nackt, fordert er heraus. Ich schätze ihn sehr, diesen Alchimisten.« (30)

Char berichtet aber auch von ermordeten Kampfgefährten, so von Émile Cavagni; im Epitaph über ihn heißt es: »Ein Mann ohne theoretische Bildung, aber großgeworden unter Schwierigkeiten, von einer Güte, die immer auf beständig stand, unfehlbar in seinen Diagnosen. […] In meiner Liebe zu ihm war nichts Überschwengliches, nichts, das zu schwer wiegen konnte. Sie war unerschütterliches Zu-ihm-Stehen.« (157)

Nicht weniger zu Herzen geht ihm die Hinrichtung des 23-jährigen Dichters Roger Bernard. Im väterlichen Betrieb hatte er das Drucker-handwerk gelernt, »aber die Poesie – die gesamte Poesie – zog ihn schon sehr früh an. […] Er schließt sich dem Maquis im Tal des Calavon an, eines Gebirgsbaches, an dem kampferprobte, schweigsame Menschen wohnen. Seine junge Frau, Lucienne, teilt sein unsicheres Leben. Zwischen zwei Sabotageakten liest er mir seine Gedichte vor und spricht mit mir über seine Pläne.« Auf dem Weg zum gemeinsamen Versteck wird er am 22. Juni 1944 von einer deutschen Patrouille gefasst, kann noch den Zettel mit der Botschaft schlucken, wird anschließend gefoltert und erschossen. 

Einer der längsten Texte ist die Darstellung einer Razzia im Dorf Céreste: »Man warf die Einwohner aus den Häusern, befahl ihnen, sich auf dem Dorfplatz zu versammeln. Schlüssel hatten steckenzubleiben. Ein Alter, der, harthörig, den Befehl nicht schnell ausgeführt hatte, sah nun, wie eine Bombe ihm die vier Wände und das Dach seiner Scheune in die Luft blies. […]« – Char befand sich in seinem Versteck im Dorf, die SS suchte nach ihm, doch niemand verriet ihn, auch nicht der Maurergeselle, der mit eingesammelten Kaninchenfallen das Dorf betrat, befragt und gefoltert wurde. Als die Frauen des Dorfes, Kinder und Greise der SS entgegenströmten, verließ diese irritiert das Dorf. »Den Maurer ließ man für tot liegen. Schäumend vor Wut, bahnte sich die Streife einen Weg durch die Menge […]. Mit unendlicher Vorsicht sahen angsterfüllte, gütige Augen jetzt zu mir herüber, huschten die Blicke, dem Strahl einer Lampe gleich, über mein Fenster hin. Ich trat halb hinter dem Vorhang hervor, ein Lächeln löste sich von meiner Blässe ab. Mit tausend Fäden des Vertrauens hing ich an diesen Menschen; kein einziger sollte jemals abreißen. 

Unbändig habe ich sie an jenem Tag geliebt, meine Mitmenschen, weit über alle Aufopferung hinaus.« (128)

Die vergiftete europäische Zivilisation

Die Hoffnungen auf eine bessere und gerechtere Welt all derer, die im Widerstand lebten, die ihr Leben riskierten, erwies sich als Chimäre. In der Notiz 220 spricht der Dichter dies an. Er sah voraus, wie für Jahre durch den Faschismus, durch Kollaboration und Selbstbetrug die europäische Zivilisation vergiftet sei: »Unsere bequeme Einmütigkeit, unser Gerechtigkeits-hunger: sie werden sich, ich fühle es voraus, als recht kurzlebig erweisen, wenn das uns im Kampf verknüpfende sich gelöst hat. Auf der einen Seite bereitet man sich darauf vor, das Abstrakte zu fordern; auf der anderen wiederum wird blindlings all das verworfen, was dazu beitragen könnte, das menschliche Dasein in unserer Zeit zu erleichtern und den Menschen mit zuversichtlichem Schritt auf seine Zukunft zuhalten zu lassen. […]« – Und er setzt fort: »Die Phantome erteilen Rat um Rat, statten Besuch um Besuch ab – Phantome, deren empirische Seelen ein einziger Haufen von Schleim und Neurosen sind.« 

Dachte er an die Situation, als man ihn aufgrund eines Befehls mit einer Spitfire aus dem Maquis nach Algier ausflog, und er erleben musste, wie falsch das Leben der Partisanen eingeschätzt wurde? – Char wird zu einem Treffen mit General de Gaulle in Algier befohlen. Die triviale Eröffnung des Gesprächs durch den General mit den Worten: »Monsieur, sind wir gut angekommen?« macht Char wütend, und als de Gaulle wissen möchte, wie er, Char, die Kräfte des Maquis einschätze, antwortet er aufgrund der Gefahren, denen sie täglich ausgesetzt sind: »Die Kunst besteht darin, sich unsichtbar zu machen.« 

Nach dem Gespräch, auf der Straße, rief Char empört zu den Kameraden, die ihn begleitet haben: »Welch ein Idiot!« – Dies war die erste und einzige Begegnung der beiden, sie finden keine gemeinsame Sprache. Char lehnt nach dem Krieg auch alle Auszeichnungen sowie ein weiteres Treffen mit de Gaulle ab.

Vor seiner Abreise nach Algier versteckte Char sein Notizheft in einem Mauerloch in Céreste. Nach der Befreiung beginnt er mit der Überarbeitung, mit dem Kürzen und Komprimieren der flüchtig notierten Sätze. Er schreibt 1948 in einem Brief an Francis Curel, der das KZ Mauthausen überlebt hat: »Wir sind Partisanen, um nach dem Brand die Spuren zu verwischen und das Labyrinth zu vermauern. […] Die Strategen haben damit nichts gemein. Die Strategen sind die Plage der Welt und ihr schlechter Atem. […]« 

Diese Einschätzung korrespondiert für mich mit der Notiz Nr. 7: »Dieser Krieg wird über alle platonischen Waffenstillstände hinaus fortdauern. Die Implantation der politischen Begriffe wird weitergehen, kontradiktorisch, inmitten von Konvulsionen und unter dem Deckmantel einer ihrer Rechte sicheren Scheinheiligkeit. Man lächle nicht. Sondern tue alle Skepsis und Resignation ab und bereite seine sterbliche Seele darauf vor, es intra muros mit Dämonen aufzunehmen, kalt und Mikroben gleich.«

 

Char mit Katze, 1941 (Foto: Public Domain)