Den von ihm geprägten Begriff der Simulation hat der französische Philosoph Jean Baudrillard am Verhältnis der Ethnologie zu ihrem Gegenstand veranschaulicht. In dem im Merve-Verlag erschienenen Band »Agonie des Realen«, der Essays aus den Jahren 1977 und 1978 zusammenführt, nennt er zwei komplementäre Beispiele für das Gegensatzpaar von autochthonen Gemeinschaften und allochthonen Gesellschaften, von indigenen und kolonisierenden Völkern, um die Beziehung zwischen Kulturpflege und Tod, Schutz und Zerstörung zu illustrieren, die die Ethnologie charakterisiere. Als erstes Beispiel dienen ihm die auf den Philippinen angesiedelten Tasaday-Indianer, deren letzte – ohne Berührung mit den Spuren von Urbanisierung und Industrialisierung im Dschungel lebende – Stammesmitglieder Anfang der siebziger Jahre von der philippinischen Regierung in einem Akt selbsttätiger Dekolonisierung wie Exemplare einer vom Aussterben bedrohten Tierart unter Schutz gestellt wurden. Ihr »Lebensraum« wurde Baudrillard zufolge wie ein Naturschutzgebiet gegen potentiell schädliche Fremdeinflüsse abgeschottet, um auf diese Weise ihre autochthone Gemeinschaft zu erhalten. Als Folge ist der indigene Stamm binnen weniger Jahre ausgestorben. Die Abschirmung gegen Einflüsse moderner Vergesellschaf-tung hat die Gemeinschaft nicht erhalten, sondern zerstört, weil die Reproduktion der Lebensbedingungen ihrer Mitglieder ohne Bezug auf ein fremdes Außen, auf ein gesellschaftlich Anderes, unmöglich war.
Auch offizieller Teil des Weltkulturerbes: Die Herstellung von kroatischem Honiggebäck (licitarska srca). (Foto: Seanpu1 (CC BY-SA 3.0))
Baudrillards zweites Beispiel sind die Indianerreservate der Vereinigten Staaten, in denen nach der weitgehenden Ausrottung der indianischen Bevölkerung und der Zerstörung ihrer überkommenen Gemeinschaften aufgrund von Scham angesichts dieses Teils der Geschichte der Neuen Welt durch gezielte Förderung indianischer Kultur seit den sechziger Jahren nach amerikanischer Selbstauskunft »die Zahl der Indianer wieder auf den Stand gebracht« worden sei, »auf dem sie sich vor der Eroberung befand«. Die Ausrottung der Indianer wurde durch eine vermeintlich aufgeklärte pro-indianische Bevölkerungspolitik sozusagen wiedergutgemacht. Beide Beispiele sind zueinander komplementär, weil beide das verleugnete kumpaneihafte Verhältnis des Kulturschutzes zum Tod beleuchten. In der ersten Variante führt das kulturschützerische Bemühen um ethnische Artenerhaltung zur Zerstörung der Menschengruppe, die vor dem Untergang bewahrt werden soll. Die zweite Variante führt unfreiwillig zynisch vor, dass jegliche Form kollektiver Wiedergutmachung und kultureller Reue, auch wenn sie moralisch integer und subjektiv ehrlich sein mag, auf dem Verschwinden dessen beruht, was sie entsühnt. Was im Bewusstsein der Möglichkeit seines Aussterbens um jeden Preis bewahrt werden soll, wird dadurch erst recht zerstört, weil Bewahrung das Bemühen um Beförderung von Lebendigkeit und Entwicklung, also das Gegenteil bloßer Konservierung ist. Wird umgekehrt etwas Abgestorbenes oder Ausgelöschtes ohne Bewusstsein um seine Historizität scheinbar wieder zum Leben erweckt, handelt es sich um ein Zombie-Leben, um eine Lebensfiktion auf Grundlage des Todes, an der sich diejenigen delektieren können, die jedes Bewusstsein um die Historizität und Vergänglichkeit alles Lebendigen verleugnen wollen.
Solche Lebensfingierung, die um die Vergänglichkeit und Lebendigkeit dessen betrügt, was sie nachbildet oder – wie er es nennt – »klont«, nennt Baudrillard Simulation. Diese ist nicht einfach bloße Imitation, nicht die mimetische Nachbildung von etwas historisch Geschwundenem, sondern dessen geschichtsvergessene Reanimation: Während Mimesis das von ihr Nachgebildete im Bewusstsein seiner Nichtvorhandenheit lebendig erhält, sanktioniert die Simulation, die es ohne Tod des Simulierten nicht geben könnte, dessen Verschwinden. Sie ist selbst ein Todeskult. Insofern ist es signifikant, dass die erwähnten Texte Baudrillards nur wenige Jahre nach einem damals als epochal wahrgenommenen weltpolitischen Ereignis veröffentlicht wurden: der Ratifizierung des »Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt« der UNESCO, das am 16. November 1972 beschlossen wurde und ab 1975 (in der Bundesrepublik Deutschland 1977) in Kraft trat. Die unterzeichnenden Staaten verpflichteten sich darin, das auf ihrem Territorium vorhandene »Welterbe«, das ebenso Kultur- wie Naturgüter sowie ideelle Werte, Traditions- und Brauchtumsbestände umfasst, zu erfassen, zu schützen und zu erhalten sowie zu diesem Zweck international mit den anderen Unterzeichnerstaaten zu kooperieren. Der Begriff des Kulturgutes (cultural property) geht auf den französischen Priester Henri-Baptiste Grégoire zurück, der sich zur Zeit der Französischen Revolution mit den Angehörigen des Dritten Standes solidarisierte und für die weltweite Abschaffung der Sklaverei eintrat. In der 1954 verabschiedeten Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut im Fall kriegerischer Konflikte, an die der Weltkulturerbe-Begriff der UNESCO teilweise anschließt, wird »jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volke es gehört«, als »Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit« bestimmt, weil »jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet«.
Die Begriffe der »Weltkultur« und des »Erbes«, die hier weitgehend ohne juristische und politische Konkretion ihrer nationalstaatlichen Geltungskraft amalgamiert werden, verweisen zurück auf Vorstellungen eines Weltbürgertums, das in den bürgerlichen Revolutionen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur idealistisch beschworen wurde, sondern greifbar erschien. In den fünfziger Jahren angesichts des Kalten Krieges bereits zum Kitt zwecks Beschwörung eines nicht mehr realisierbaren Kosmopolitismus geworden, war solches Weltbürgertum 1972 im Weltkulturerbe-Begriff der UNESCO bereits Ausdruck eines resignativen Kultur- und Werterelativismus. Flagrant wird dies daran, dass es nun nicht mehr um den Schutz von Kulturgütern in Situationen militärischer Konfrontation geht (wodurch sich die Haager Konvention noch als Versuch der Aufrechterhaltung zivilstaatlicher Normen angesichts kriegsrechtlicher Notstandsgesetze interpretieren ließ), sondern fast im Gegenteil um den Schutz von »Kulturgütern« und »Naturstätten« gegen als schädlich angesehene Einflüsse der Zivilisation, deren »Ausbreitung« in der UNESCO-Konvention explizit als Quelle von Kultur- und Naturschädigung benannt wird. Neben dieser Verwischung des Unterschieds zwischen Natur und Kultur sowie zwischen Kriegen als temporärer Suspendierung bürgerlichen Rechts und dessen zivilrechtlichem Normalvollzug unterscheidet sich die UNESCO-Konvention von der Haager durch eine Neubestimmung des Begriffs des »Volkes«. Verwies die von Grégoire übernommene bürgerlich-revolutionäre Anschauung, wonach »jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leiste«, universalistisch auf die Fähigkeit jedes Volkes, zum Souverän, und damit jedes Menschen, zum bürgerlichen Rechtssubjekt zu werden, hat der Begriff des Weltkulturerbes der UNESCO-Konvention im Gegenteil dazu beigetragen, ethnisch und kulturalistisch bestimmte Gemeinschaften zu Kollektivsubjekten aufzunorden, die als solche gegen den Universalismus des Rechts ebenso wie gegen nationalstaatlich vermittelte Volkssouveränität ins Feld geführt werden. Vom Agens eines aufgeklärten Weltbürgertums ist das »Kulturerbe« so zur wirkmächtigen Form der Durchsetzung von ethnischem Partikularismus und Kulturrelativismus geworden.
Die inzwischen ins Unüberschaubare verlängerte UNESCO-Liste »materieller« und »ideeller« Kulturgüter verdeutlicht zweierlei: Zum einen hat sich mit dem Kulturerbe-Begriff ein gegenüber jeglichem moralischen Urteil indifferenter Relativismus etabliert, der es mittlerweile möglich macht, für die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung als kulturellem Brauch mit gleichen Erfolgsaussichten einzutreten wie für den Erhalt von Dschungeln als »Lebensräumen«, gegen den Bau sozial und ökonomisch notwendiger Staudämme oder für das Rühren eines regionalspezifischen Brotteigs im Einklang mit der Erdbewegung. Das entspricht dem postkolonialen Trend, jegliche noch so gut begründete Hierarchisierung gesellschaftlicher Errungenschaften und jede urteilende Differenzierung zwischen mehr oder weniger erhaltenswerten oder womöglich abzuschaffenden kulturellen Praktiken als überheblich, kolonialistisch, rassistisch und »weiß« zu perhorreszieren. Zum anderen ist offensichtlich, dass die immer kleinteiligere Vermessung der Welt unter dem Aspekt des Weltkulturerbes der prätendierten Absicht, durch Ausbreitung der Zivilisation bedrohte ethnische, kulturelle oder naturräumliche Residuen zu schützen und zu bewahren, sich selbst dementiert. Die Endloslisten zu schützender »materieller« und »ideeller« Kulturgüter sowie »Naturstätten« bringen eine Auffassung von »Welt« zum Ausdruck, in der sich die gesamte Erde mit allen ihr von den Menschen angedichteten, erkannten oder durch Arbeit abgewonnen Werten, Ideen und Gedanken in ein lückenlos katalogisiertes Güterinventar verwandelt hat.
Statt dem Inkommensurablen, Unerschlossenen oder nicht vollständig Erschließbaren Raum zu gewähren, forciert der Schutzfetischismus des Weltkulturerbes die Unterwerfung der gesamten menschlichen Lebenswelt – der Erde – unter den Primat der Güterschaft und des Eigentums, das allerdings entgegen dem bürgerlichen Eigentumsbegriff nicht mehr das Rechtsverhältnis des Individuums zu den ihm rechtmäßig eigenen Gütern, sondern das Verhältnis von Kollektiven – Ethnien, Völkern oder Sippen – zu dem mit ihnen verbundenen »Umfeld« meint. Indem solcherart Kollektiven die ihnen vorgeblich zugehörenden Güter großzügig zurückerstattet werden, werden zugleich die Individuen, die nur noch als Exemplare ihrer Kultur Rechte haben, enteignet. Damit erweist sich der Begriff des Weltkulturerbes immer offenkundiger als ein Angriff auf das bürgerliche Recht überhaupt, das Individuen als Rechtssubjekten und nicht Kollektiven, Gemeinschaften oder gar Kulturen zukommt. Die ehrwürdige Provenienzforschung, deren bedeutendste Leistung in der akribischen Rekonstruk-tion der Tradierung und Zerstörung von Eigentumsverhältnissen speziell im Zuge des Nationalsozialismus und dessen Nachleben besteht, weiß das genau und ist deshalb objektiv der eigentliche Gegner der ideell-materiellen Kulturgutschützer. Provenienzforschung beschäftigt sich mit der Geschichte von Eigentums- als Rechtsverhältnissen und versucht, deren gesellschaftlich und politisch induzierten Zerfall entgegenzuarbeiten, indem sie mühe- und liebevoll rekonstruiert, was ihn bewirkte, und auf Grundlage der bestehenden Rechtsverhältnisse so etwas wie eine immer unzureichende und prekäre Entschädigung anstrebt: Es geht ihr um juristische wie ideelle Restitution und damit um historisches Gedächtnis, nicht um Kulturgüterschutz.
Die fast obsessive Beschäftigung Jean Baudrillards mit der seit den siebziger Jahren immer nötigender auftretenden kulturschützerischen Inventarisierung, Musealisierung und sich am Absterben des von ihr Erfassten weidenden Neutralisierung der Welt war eine der frühesten Reaktionen auf die in letzter Konsequenz antihumanistischen Implikationen des Weltkulturerbe-Pathos. Der vielgeschmähte Zynismus Baudrillards, der ihn von der kaltschnäuzigen Gleichgültigkeit anderer Postmodernisten unterscheidet, hatte zumindest das eine Gute, dass er den Blick für das Lächerliche schulte, das etwa Cem Özdemir und Annalena Baerbock ausstrahlen, wenn sie sich beim Staatsbesuch in Brasilien von dem einzig »autochthonen«, regierungsamtlich dafür bezahlten Regenwald-Eingeborenenstamm sippengerecht schminken lassen. Solch interessierte Anbiederung ans nicht mehr existente Authentische ist nicht einmal unfreiwillig komisch, sondern bringt das morbide Bewusstsein zum Ausdruck, dass die ganze Welt sich in eine Ansammlung von Lebensweltinventargütern verwandelt hat, die zu gebrauchen man lernen muss, will man noch etwas zu melden haben.